Seit vielen Jahren bewegen die Verantwortlichen in der Kirche und in den Gemeinden vor allem solche Fragen wie: Woran liegt es, dass wir immer weniger Menschen mit dem Evangelium erreichen? Dass wir in den Gemeinden immer weniger werden und kaum noch welche dazukommen? Vielerorts sind die Christen, vor allem an der Basis, traumatisiert von der schwindenden Bedeutung der Kirche für die Menschen und die Gesellschaft. Rezepte, mit denen gegengesteuert werden kann, sind nicht leicht zu finden. Und erfolgreiches Bemühen gegen diese Entwicklung stellt sich noch viel weniger ein, zumal immer mehr Pfarrstellen aus finanziellen Gründen abgebaut werden müssen. Selbst mit großen und aufwändigen Kampagnen sind Verbesserungen kaum zu konstatieren.

Die katholische Kirche reagierte darauf bereits im Jahre 2005, indem sie vom Sozial- und Marktforschungsinstitut „Sinus“ mit Sitz in Heidelberg, Berlin und Zürich eine Studie zur religiösen und kirchlichen Orientierung hat anfertigen lassen.
Die evangelische Kirche begann später, sich damit zu beschäftigen, das jedoch dann sehr tiefgründig, vor allem in Form eines Pilotprojektes der EKD mit der Evangelischen Kirche in Württemberg. Doch es wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis es so weit abgeschlossen ist und Ergebnisse und Erfahrungen vorliegen, mit denen die anderen Landeskirchen die Arbeit in den Gemeinden die Erarbeitung ihrer eigenen Milieu-Studien starten können. Meine Sorge ist daher, dass den Kirchen und vor allem den Kirchgemeinden die Zeit wegläuft, bis dort überhaupt ankommt, was das Modell der Sinus-Milieus ist, wozu es den Gemeinden in ihrem missionarischen Auftrag helfen kann, welche Gefahren und Hindernisse bestehen können und welches Instrumentarium dann das geeignetste wäre. Es könnte sein, dass viele Gemeinden gerade im ländlichen Raum so klein geworden und die wenigen Christen auch so abgestumpft sind, dass sie die Kraft dazu nicht mehr aufbringen. Daher mein Vorschlag: Die Landeskirchen sollten damit anfangen, über dieses Modell zu informieren, bei den kirchenleitenden Gremien angefangen bis in die Gemeinden. Auch das wird seine Zeit brauchen. Bis dahin ist sicherlich aus den Ergebnissen des Pilotprojektes jedoch Klarheit darüber gewonnen, wie das Modell konkret in den Gemeinden angewendet werden kann. Dies könnte dann „nahtlos“ angeschlossen werden.
Aus meiner Sorge heraus habe ich für alle Interessenten einen „Querschnitt durch die Forschung zum Modell der Sinus-Milieus für die Kirche - Blick auf den gegenwärtigen Stand der Arbeit mit dem Modell (Stand Juni 2013)“ erstellt. In dem Papier werden zudem wichtige Quellen genannt, die bei der eigenen Weiterbeschäftigung mit diesem Modell sehr dienlich sind.

Zum Schluss noch einmal die oft gestellte grundsätzliche Frage: Kann das Modell der Sinus-Milieus eine wirkliche Hilfe sein? Ich sage ganz klar Ja. Ja, solange es uns in der Kirche um unsere eigene Einstellung zu den Menschen geht, die in ganz anderen Lebensbezügen leben, und die wir gewinnen wollen – nicht vordergründig als Mitglieder, sondern zuallererst, damit auch sie die alles verändernde, alles neu machende Kraft des Evangeliums erfahren können. Es geht darum, ihnen die Liebe Gottes vorzuleben und ihnen in dieser Liebe nachzugehen, so wie Gott uns nachging und in Jesus Christus aus Liebe in unsere Welt kam, so wie Jesus selbst immer wieder aus Liebe die Grenzen auch zu den „unmöglichsten und unwertesten“ Menschen überwand, und so wie Paulus aus Liebe den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche und den Schwachen ein Schwacher wurde. Dass das oft nicht leicht ist, das führt z.B. auch Manfred Lütz, Psychiater, Psychotherapeut, Diplom-Theologe und Schriftsteller vor Augen. In seiner analytischen, erhellenden und dabei sehr amüsanten Art schreibt er in seinem Buch „Bluff! Die Fälschung der Welt“: „Wahre Liebe hatte schon früher gegenüber den Ressentiments des Milieus kaum eine Chance. Und auch heute heißt es im Brustton der Überzeugung bei milieuübergreifender Liebe: Wie kann eine solche Frau bloß einen solchen Mann heiraten! Denn es existieren Grenzkontrollen am Rande der Milieus, und Grenzüberschreitungen werden sanktioniert.“
Wir brauchen also für die anderen einen weiten Blick und ein großes Herz. So kann das Evangelium auch Menschen erreichen, die ganz anders sind als wir. Ich bin der Überzeugung: Wird das Modell der Sinus-Milieus mit einer solchen Einstellung gebraucht, wird es sich als ein gutes Hilfsmittel erweisen, Zugang zu ganz anderen Menschen zu bekommen und sie für den Glauben an Christus zu gewinnen.