Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt. Nimmt Paulus hier nicht den Mund zu voll? Ich vermag alles: Schwierigkeiten zu überwinden bei der Lösung von Problemen, beim Umgang mit Menschen, die anders denken, anders leben und uns vielleicht widerstreben? Kräfte und Mittel aufzubringen zur Lösung weltweiter Probleme wie Hunger, Ungerechtigkeit, Krieg, Klimawandel und Katastrophenhilfe? Sehen wir auf den gesamten Textabschnitt, aus dem dieser Vers ausgewählt wurde, so wird klar: Es geht Paulus darum, mit dem eigenen Leben zurecht zu kommen - mit allen Höhen und den Tiefen.
Eine solche Haltung ist zunächst leicht verwechselbar mit Lebenseinstellungen, wie sie zu Zeiten des Paulus die kynisch-stoischen Philosophen lehrten. Sie erzogen zur äußersten Selbstdisziplin und Bedürfnislosigkeit, um anspruchslos und gelassen leben zu können und sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Unabhängigkeit, Selbständigkeit, also Autarkie und dadurch innerlich frei werden – das sind ihre hohen Tugenden zu einer solchen Lebenshaltung.
Sie hat allerdings nichts mit ähnlichen Lebenshaltungen zu tun, die wir heutzutage sehr oft antreffen: mit der Resignation, bei der dem Menschen alles egal ist. Sie hat auch nichts zu tun mit einer zur Schau getragenen Wehleidigkeit, bei der im Jammern sich gebrüstet wird über den eigenen souveränen Umgang mit der Not und dem Übel als eine erstrebenswerte, tugendhafte Haltung.
Paulus schreibt, dass auch er eine „autarke“ Person ist, wie im Vers 11 zu lesen ist. Er kann in Autarkie, Selbständigkeit leben und ist nicht abhängig von fremder Hilfe, ist frei. Dennoch unterscheidet sich seine Lebenshaltung von der der Stoiker. Es stimmt zwar, dass man lernen kann, mit Höhen und Tiefen klar zu kommen. Das ist auch gut so. Es hilft, im Glück nicht übermütig zu werden und im Leid nicht zu verzweifeln. Aber wer kann das schon durchhalten? Was ist mit denen, die es nicht schaffen? Oder mit denen, deren Leid so groß ist, dass sie damit eben nicht mehr leben können? Oder mit denen, die es können, aber dabei sich selbst zu Helden oder zu Opfern hochstilisieren und die anderen dabei übersehen?
Der entscheidende Unterschied zu solcher Lebenshaltung liegt darin, woher Paulus die Kraft dazu bekommt: nicht aus eigenem Vermögen, sondern von Christus. Mit der Schwäche und mit dem Mangel, den Paulus leidet, erwächst Gottes Kraft. Christus hatte sie ihm zugesagt mit den Worten in 2 Kor 12,9: Lass dir an meiner Gnade genügen, meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Auch jetzt, im Gefängnis in Ephesus, machte Paulus diese Erfahrung der Kraft Christi: In seiner Not traf Hilfe aus der Gemeinde in Philippi ein – ein Zeichen der Gemeinschaft mit ihnen im Glauben an Jesus Christus. Als autarke Person kann er durch die Kraft Christi die äußeren Bedingungen bestehen: Gefängnis und Not, Hunger und Mangel, aber auch Wohlstand und Überfluss. Er weiß sich einzuschränken, aber auch mit Satt-Sein und Überfluss umzugehen.
Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt. Da kann so gelebt werden, wie es im Ps 23 bekannt wird: Mir wird nichts mangeln. – Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Worte wie diese gibt es viele in der Heiligen Schrift. Sie entfalten ihren Trost und ihre Kraft, weil sie an die Quelle führen, die Kraft spendet. Aus ihnen höre ich auch: Traut dem Evangelium, traut Christus mehr zu! Lasst euch z.B. wegen der sinkenden Mitgliederzahlen in den Kirchen nicht anstecken von Resignation oder auch einem Aktionismus, der mehr auf die eigene Kraft und Möglichkeiten vertraut als auf Christus. Euro und Dollar, Wohlstand und Gesundheit, bedeuten nicht die letzte Hoffnung und geben euch keinen Halt. Ihr habt Christus, der euch Kraft gibt, diese Zeit zu bestehen und auf die heilvolle Zukunft ausgerichtet zu bleiben.
Christus, der dem Apostel Kraft gibt, Überfluss und Mangel zu bestehen – diesen Christus gilt es zu erkennen. Er hilft zur richtigen Selbsteinschätzung.