Erbarmt euch derer, die zweifeln. Dazu ruft der Schreiber des Judasbriefes auf. Warum? Ist nicht der Zweifel des Menschen eine fruchtbare Triebkraft zu einem immer weiter fortschreitenden Erkenntnisgewinn? So sah es schon Aristoteles und schrieb: „Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.“ Doch wir kennen alle auch noch eine andere Seite des Zweifels. Christoph Lehmann, ein Lehrer und Stadtschreiber in Speyer im 17. Jahrhundert, formulierte treffend: „Wer zuviel zweifelt, der verzweifelt.“ Ja, manche hat dann der Zweifel schon in den Wahnsinn getrieben oder zu Kapitalverbrechen geführt: der Zweifel an der Liebe des Partners beispielsweise. Aber auch der Zweifel an Gottes Liebe und Barmherzigkeit.
Wo eine letzte Erkenntnis nicht möglich ist, wo wir also mit all unserer Vernunft nicht hinreichen, um unsere Zweifel, also die Bedenken in uns aufzulösen, da kann sich Verzweiflung breit machen. So ist es im Bereich des Erkennens der Weltwirklichkeit, aber besonders im Bereich des menschlichen Zusammenlebens. Wer könnte denn mit letzter Gewissheit und Bestimmtheit sagen, was sein Partner ihm bzw. ihr gegenüber wirklich empfindet und ob das, was er bzw. sie aus Liebe zu tun meint, wirklich auch aus ganzer Liebe geschieht? Niemand erlangt letzte Gewissheit darüber, wie der andere wirklich denkt und fühlt. Das kann manche Menschen zur Verzweiflung treiben, wenn, ja wenn da kein Vertrauen zu dessen Liebe und Zuwendung da ist – trotz dem einen oder anderen Zweifel, der sich hin und wieder einstellt.
So ist es auch in Bezug auf unseren Glauben. Gottes Liebe und Gnade – wer kann sie ergründen? Jedenfalls nicht unser Verstand. So weit reicht menschlicher Verstand nicht, um Gott mit letzter Gewissheit zu erkennen und zu ergründen. Aber wir können ihn mit seiner Liebe und Gnade erfahren, indem wir ihm und seinem Wort vertrauen – trotz so mancher Bedenken, die sich, solange wir leben, immer wieder einstellen. Wenn alles gegen Gott zu sprechen scheint: unsere eigenen, oft leidvollen Widerfahrnisse, die ungezügelte Bosheit in der Welt, Kriege und Naturgewalten, die vielen Menschen das Leben nimmt. Es belastet immer wieder unser Vertrauen zu Gott, unseren Glauben. Es gibt viele Menschen, die haben Angst, dass aus dem Zweifel mehr wird – eine Anfechtung im Glauben, die im Unglauben, im Bruch mit Gott, enden kann. Sie setzen sich deshalb oft nicht allzu sehr mit ihren Zweifeln, mit ihren Bedenken auseinander. „Wer zuviel zweifelt, der verzweifelt“- manchmal auch im Glauben an Gott, aber ebenso auch an der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und an der Liebe anderer. Doch das Verdrängen der Zweifel ist keine Lösung. Sie bleiben ja und nagen bei der nächsten Gelegenheit wieder in uns.
Erbarmt euch derer, die zweifeln. Das ist der andere Umgang damit, zu dem der Verfasser des Judasbriefes rät. Es ist Hilfe von außen nötig – Menschen, Christen, die die Bedenken des anderen wahrnehmen und ein offenes Ohr für ihn haben, ihn nicht stehen lassen, sondern sich seiner erbarmen – ihn ernst nehmen in seinem Zweifel und sich ihm zuwenden und ihm so lange zugewandt bleiben, wie es nötig ist. Christliche Gemeinde handelt so. Christen sollen so weitergeben, was sie selbst von Jesus Christus empfangen haben und immer wieder empfangen: die Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Ohne sie wären sie verloren. Das zu zeigen, darauf kommt es dem Verfasser des Judasbriefes angesichts von Irrlehrern, die viele Christen der Gemeinden in Zweifel stürzten, an. Nehmt euch derer an, die mit ihrem Glauben nicht mehr klar kommen! Nehmt euch derer an, die die Aufrichtigkeit und Handlungsweisen anderer bezweifeln. Nehmt euch derer an, die Bedenken haben zu den Wegen, die die Politik geht, aber auch zu den Wegen, die die Kirchen eingeschlagen haben. Nehmt euch all derer, die dadurch Probleme haben. Erbarmt euch ihrer!
Wie kann das konkret aussehen? Niemand kann sich ja selbst von Zweifeln befreien, so wie Münchhausen sich auch nicht selbst aus dem Sumpf ziehen konnte. Der Zweifler braucht Hilfe von außen, von Menschen, die dessen Bedenken ernst nehmen, die mit ihm darüber reden, damit sich seine widerstreitenden Gedanken ordnen können und so Klarheit und Gewissheit gewonnen werden kann und der oft quälende und lähmende Zweifel so sein Ende findet. Insbesondere wenn es um Zweifel hinsichtlich des Glaubens und der christlichen Lebensführung geht, so soll der Zweifler in seiner Schwester oder seinem Bruder im Herrn jemand haben, der ihn versteht und sich mit ihm auf den Weg macht, damit das helle Licht Christi wieder in ihm zum Leuchten kommt und Klarheit und Gewissheit sich einstellen. Tadeln und Belehren hilft da nicht, sondern aus Nächstenliebe heraus sich seiner zu erbarmen.