Dass sich diese Oper am Ende noch nach C-Dur wendet, gehört für mich zu ihren überwältigendsten Momenten - auch wenn es nur 3 Takte lang aufstrahlt (nach Chrysothemis „Orest!“-Rufen) und zuletzt von e-moll gebrochen wird. „Ich kann gar nicht genug hinknien vor diesem Komponisten“, sagte Otto Schenk kürzlich in einem Interview (Kulturmontag, 16.6., ORF2). Zum Hinknien waren an diesem Abend auch die Leistungen der Dresdner Staatskapelle unter Leitung von Peter Schneider und von Evelyn Herlitzius in der Titelpartie.

Die Dresdner Staatskapelle hatte hörbar Lust daran, die großen Emotionen Klang werden zu lassen. Sie bot den Genuss von Intensität, durchgehalten vom ersten bis zum letzten Takt. Zugleich kann man bei Peter Schneider nicht nur den Stimmen auf der Bühne, sondern auch denen im Orchester folgen.

So ermöglichte er eine Entdeckungsreise in Strauss' Orchestrierungskunst. Der komponiert wortgenau: wer am Text entlanggeht, hört zu „Sturm“ den Sturm sausen oder zu „Beil“ das Beil fallen. Doch viel wichtiger ist der Klang von Gedanken und Gefühlen, die in den Protagonisten toben. Während Klytämnestra noch rätselt, wer das rechte Opfer sei, verrät das Orchester, dass Elektra längst an ihren Tod denkt (finaler Sieges-Tanz)! Wenig später vermag sie im Klang des Namens ihres Bruders geradezu in Zärtlichkeit zu versinken.

Evelyn Herlitzius ist 105 Minuten lang das alles: Energiebündel, von „unbändigem Gemüt“ (so Chrysothemis), Furie, auch hellsichtig Sensible, über sich selbst Entsetzte. Sie gibt sich rückhaltlos in die Rolle, zeigt auch, was sie das kostet. Stimmlich kann sie Stichflamme sein und Krallen ausfahren, hat rasende, stabile Spitzentöne, emotionale Glut, die innern lodern kann (Monolog) und mit archaischer Wucht ausbrechen. Welche Macht geht von dieser zerrissenen Frau aus! Sie würde ihrer Mutter am liebsten ins Gesicht springen (musikalisch tut sie das auch mit markantem Sechzehntelmotiv in den Blechbläsern in c-moll). Wie sie sie schließlich in die Flucht schlägt, ja von der Bühne jagt, nimmt einem die Luft! Nun, es gibt andere Lesarten für diesen Moment. Komponiert ist so ein desaströser Abgang von Klytämnestra, die in Fluchthaltung geduckt, mit nur noch einem Schuh weg humpelt, nach meinem Empfinden nicht. Hier wird Elektras Sieg vorweggenommen. Denn beim finalen Tanz ist sie ihrer kaum mehr mächtig. Regisseurin Barbara Frey setzt ihr „ich kann mich nicht heben“ konsequent szenisch um, bannt sie mehr und mehr auf den Bühnenboden, lässt sie den Tanz im Sitzen vollführen (ungewohnt, doch hier überzeugend), zeigt die Last und die Lust des schwer errungenen Glücks! Gewaltige "Orest"-Rufe vom Rang. Peter Schneider steigert die Spannung (szenisch in der Kluft zwischen der am Boden krallenden Elektra und der im Brautkleid erscheinenden Chrysothemis) immer weiter bis zum Zerreißen. Furchtbares Sausen, es-moll und c-moll, dann der Durchbruch nach Dur. Dirigent, Orchester und Sänger haben das Maximum an musikalischem Ausdruck erreicht. Mit dem Abwinken des Orchesters ein jubelnder Aufschrei im Zuschauerraum!

Und die Regie? Barbara Freys dritte Opernregiearbeit ist in gutem Sinn minimalistisch, erspart Schockeffekte (a la Lehnhoff) und hat ihre Stärke in der Personenführung der drei Protagonistinnen. Sparsame Gesten, wenige Schritte, maximale Wirkung, weil die Musik zur Wirkung kommt. Einzig die Raum-Vorstellung vermag ich nicht zu teilen. Nicht nur, weil der von Muriel Gerstner geschaffene Saal im Berliner Flughafen Tempelhof mit seiner Ödheit und Zeichen des Zerfalls doch sehr an Anna Viebrock erinnert, sondern weil ich die Aussage, dass Elektra eben nicht mehr im Palast leben kann, sondern außerhalb existieren muss, für grundlegend wichtig halte. Die Anspielung auf Berlin – wo Strauss 10 Jahre preußischer Hofkapellmeister war, wo 1903 Hofmannsthals „Elektra“ uraufgeführt wurde, wo Strauss 1908 „seinen“ Librettisten kennen lernte – ist entbehrlich! „Justitia regnorum fundamentum“ – der Wahlspruch (Äußeres Burgtor, Wien) von Kaiser Franz I. von Österreich – vielleicht auch. Denn er erschlägt das hier in Kleidern der 60er Jahre gezeichnete innerfamiliäre Drama.

In Strauss’ Geburtstagsmonat Juni nahm die Semperoper, die Ballett-Premiere „Legenden – Hommage an Richard Strauss“ vom 28.6. umrahmend, an zwei Abenden „Elektra“ in deutlich veränderter Besetzung (7 von 16 ) gegenüber der Januar-Premiere (Bericht: Merker 2/2014, S. 55f) wieder auf. Manuela Uhl (Chrysothemis) ist Elektra eine Schwester auf Augen- und Stimmhöhe. Klar, geradlinig, warm timbriert ist ihre Stimme – und sie kann Sprengkraft entwickeln, wenn sie „bei ihrem Bruder stehen“ muss. Diese Schwester überwindet Elektra nicht zur Tat, diese Schwester geht bewusst ihren eigenen Weg. Der Klytämnestra von Tichina Vaughn fehlt nur noch das Dämonische für diese Rolle. Sie bleibt harmlos – ob vom Balkon herab oder auf Augenhöhe zu Elektra – wo bleibt das Böse?! Orest (Markus Marquardt), äußerlich unscheinbar, wirkt verletzlich, fast ist ihm die Tat nicht zuzutrauen. Das Haus scheint ihn schließlich zu verschlucken. Diffizil gestaltet Frank van Aken den Aegisth. Beide Herren singen tadellos. Auch die kleineren Partien sind sehr gut besetzt.

Fazit: Ein großer Abend. Eine unwiderstehliche Oper.