„Wenn die Dinge uns brennend auf den Leib rücken, muss Kunst entstehen, die das Brennen zum Ausdruck bringt. Ihre Lehre ist keine Frage richtiger Distanz, sondern richtiger Nähe.“ So formuliert der Sänger, Gesangspädagoge und Publizist Björn Waag (in Anlehnung an Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft Bd. 1) sein künstlerisches Credo. Etwas von diesem Brennen, von der richtigen Nähe habe ich mir für diesen „Parsifal“-Abend gewünscht. Das ist nicht vermessen. Wagners Musik überwältigt, ergreift Besitz, ist wirkmächtig/-kräftig und heilsam im besten Sinne.
Sänger wissen das. Theo Adam hat es in einem Interview (veröffentlicht in: T. Adam, Die hundertste Rolle, Berlin 1987, S. 128 ) so gesagt: „Es ist schwer, auszudrücken, welches Gefühl mich jedes Mal überkommt, wenn ich im dritten Akt den Parsifal mit den Worten segne: ‚So ward es uns verhießen…‘. … Bei dieser Stelle habe ich seitdem immer das Gefühl des Emporgehoben-Seins … ich wähne mich dabei immer in einer anderen, besseren Welt, die sich wahrscheinlich bloß der Künstler in seinen Emotionen schaffen kann!“
Nun, auch der Opernbesucher will sie sich schaffen, erwartet gerade bei „Parsifal“ diese ganz besondere Stimmung, diese Ahnung von Transzendenz, jenseitiger Welt - die spirituelle Dimension der Musik. Im Vorspiel zum 1. Akt vollzieht sich doch im Grunde die Initiation des Opernbesuchers, der Übergang in ein dem Alltag entgegengesetztes Zeiterleben, die Aufnahme durch Abendmahls-, Grals- und Glaubensmotiv in das Reich der Religion. Und Religion beginnt bei Wagner mit der Einsicht in die Versehrtheit der Welt und ihrer Kreaturen (vgl. ausführlich G. Steinacker, „Erlösung ward der Welt zuteil“, Säkularisierung und die Oper des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2014, S.127ff). Das gilt auch für die Gralswelt.
Intensiver als Michael Volle es darstellt, ist es kaum mehr möglich. Zwar ließ er sich wegen einer beginnenden Verkühlung ansagen. Doch seine Stimme klang ebenmäßig stark, hat Ausdruck, Wärme, dazu gestaltete er als wirklich ausgezeichneter Sängerdarsteller die schmerzvolle Todessehnsucht des Amfortas so überzeugend, dass er mich mehr als alle anderen Sänger berührt hat. Wie er die „Erbarmen!“ Rufe eben nicht mit wildem Fordern und brachialer Kraft, sondern aus dem Schmerz heraus gestaltet, das ganze Erbarmen auf sich ziehend - das war großartig. Wenn sich die Gralsritter (1. Akt) von ihm abwenden, eben kein Erbarmen haben und nur Parsifal die Hand ausstreckt, dann geht das unter die Haut. Solche Momente sind leider selten.
Boaz Daniel muss, und das ist szenisch bis zur Peinlichkeit gelöst, als Klingsor mit seinem recht hellen Timbre ans rote Rednerpult. Für Christine Mielitz mag er ein eigentlich machtloser Demagoge sein wie die Führenden, die sie erlebt hat. Aus meiner Sicht ist dieser Einfall unangemessen. Entsprechend schwer hat es der Sänger: als Böser kann er nicht auftreten, dämonische Züge hat er nicht, höchstens so etwas wie Schadenfreude und Verschlagenheit. Mehr ist leider von dem in h-moll komponierten Bösen, dem Abgrund finsterer dämonischer Magie, nicht übrig geblieben.
Unter solcher Entmythologisierung leidet auch Kundry. Ich habe bedauert, dass ihr im 1. Akt von der Regie nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dort ist sie nur die ständig Bedrohte. Die Darstellungskraft, die Angela Denoke – abgesehen von ihrem prächtig vollen, klaren Mezzo-Sopran hat – hätte viel mehr möglich gemacht als die nur optisch stark unterschiedenen Frauentypen. Natürlich fasziniert sie im roten Paillettenkleid und entwickelt stimmlich eine Intensität, die die Szene (Rotlichtmilieu) vergessen lässt. Dass bis hin zum Fluch auch wirklich jedes Wort bestens verständlich bleibt – Chapeau!
Die Blumenmädchen (Ileana Tonca, Olga Bezsmertna, Stephanie Houtzeel, Hila Fahima, Hyuna Ko, Suzanne Hendrix) hört man nicht oft so homogen und rund im Klang wie hier, wenn sie Parsifal in schönstem Locken und Wiegen zu verführen suchen.
Johan Botha ist ohne Zweifel ein stimmlich überzeugender Parsifal, der mühelos jede Höhe bewältigt. Dennoch hört man, dass er der Rolle inzwischen entwachsen und im schweren Heldenfach angekommen ist. Wir dürfen uns auf seinen Calaf in der nächsten Spielzeit freuen. Großartig, wie er und Angela Denoke im 2. Akt aufeinander eingespielt sind und wie er (an diesem Abend textfehlerfrei) den Prozess des Erkennens gestaltet.
Die mir emotional am nächsten stehende Rolle ist und bleibt wohl der Gurnemanz. Wenn Stephen Milling diese Partie singt, dessen Stimme man gern folgt, weil sie jederzeit Gefühle transportiert, möchte das Zuhören kein Ende haben. „Vor dem verwaisten Heiligtum in brünst’gem Beten lag Amfortas…“, das ist so eine Stelle, die von ihm gesungen unter die Haut geht. Manchmal bedarf es aber auch nur einer Geste. Wenn zum Raum die Zeit wird, und er Parsifal umarmt – mehr braucht es da auch nicht – dann ist das einer der seltenen stimmigen Momente in der Inszenierung.
Ryan Speedo Green als Titurel hat mich nicht erschauern lassen. Der Chor und Extrachor mit seinem dichten und ausgewogenen Klang sehr wohl. Leider unausgewogen in der Dynamik waren die Bühnenmusik und der Choreinsätze hinter der Bühne.
Adam Fischer, der in dieser „Parsifal“-Serie einsprang, hinterlässt in mir einen zwiespältigen Eindruck. Er ist auf das Staatsopernorchester fixiert, dirigiert sehr energisch, mit Bestimmtheit, teils hart und antreibend, immer sehr exakt, kontrolliert, stellenweise geradezu technisch genau. Geradezu erschüttert hat mich, dass er keinerlei Emotionen dabei zeigt. So schlich sich der Zweifel bei mir ein: Ist der „Parsifal“ für ihn eine Herzensangelegenheit oder sind das doch eher der „Rosenkavalier“ und der „Titus“? Hat er, um auf das Anfangszitat zurückzukommen, die Nähe zu dem Stück, die es braucht?
Von einer Initiation durch das Vorspiel zum 1. Akt empfand ich nicht viel. Da fehlte mir die mystische Stimmung, vor allem aber die Intensität. Die Themen verflüchtigten sich sofort wieder und zerfielen, trotz des recht getragenen Tempos. Gleiches gilt für das Vorspiel zum und den 3. Akt. Da empfand ich vieles breit und zu gedehnt. Der Himmel öffnete sich nicht. Dabei ist hier Erlösung komponiert, As-Dur, eine geradezu überirdische Ruhe, ein Abglanz jener höheren Welt in ihrer Vollendung. Neben vielem Gelungenen blieb bei mir der Mangel an „Brennen“ präsent.
Es gab auch keine Szenen-Bilder, die uns aus der irdischen Welt geführt hätten.Der Gral ist kaputt. Der Glaube an „Höheres“ ist zu Bruch gegangen. Feuerbachs Religionskritik lässt grüßen. Der Mensch soll nur auf sich (oder auf das Kollektiv?!) vertrauen, mehr braucht es nicht. Richard Wagner hätte das nie unterschrieben. Es ist allerhöchste Zeit, diese Inszenierung ins Museum der (auch DDR-) Geschichte zu bringen (2x mit Absicht?).