Es ist „viel Wasser in der Musik“, stellt Ricarda Merbeth in einem Interview (Bühne, Nr. 9, Sept. 2015, mit Martin Kienzl) fest. Und es ist auch viel Sturm darin, will ich ergänzen, auf dem Wasser und in den Herzen. Das Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung von Peter Schneider braust und tobt, was zur Freude der Berichterstatterin in der Proszeniumsloge fast hautnah zu spüren ist. Die Ouvertüre beginnt mit einem heftigen Windstoß (Trompeten, begleitet von Flöten, Oboen und Klarinetten). Dann setzen die Hörner mit dem Holländermotiv ein. Doch die Hauptlast des Sturmes tragen die Streicher - solch wilde Tremoli sind Schwerarbeit. Die Paukenschläge in ff und fff machen klar, mit welcher Kraft die Wellen an den Schiffsrumpf schlagen. Das sind die Todeskräfte des Wassers (d-moll).
Nach einer stürmischen Fahrt durch die Nordsee kann ich es bestätigen: Es klingt genau so: hart, unerbittlich, hallend. Jede Welle ist komponiert (man achte auf die große, die zwischen den beiden Strophen des Steuermannsliedes anrollt) und selbst das gedruckte Notenbild der Partitur zeigt Wellenberge und –täler. Scharf pfeift der Sturm (Piccoloflöte!) und wenn das alles nicht genügt, kommt (ab Auftritt Holländermannschaft 3. Akt) die Windmaschine dazu.
An der Kraft der Musik gibt es keinen Zweifel. Man müsste sie nacherzählen können. Christine Mielitz hat mit wenigen, aber wirksamen Mitteln szenische Bilder geschaffen, die einem nachgehen und denen der Hauch des Unheimlichen nicht fehlt.
Unheimlich ist der Holländer in ihrer Inszenierung allerdings nicht. Natürlich ist er „anders“, was durch Kostümfarbe (violette Einfassung des dunklen Mantels), Maske (violettes Mal auf der rechten Gesichtshälfte – er ist ein Gezeichneter) und Verhalten deutlich wird. Violett ist die Farbe der Gespaltenheit und des Schmerzes, die liturgische Farbe in der Passionszeit. Der solcherart Gezeichnete weicht Daland immer wieder aus, erscheint als Unberührbarer. Berühren darf ihn später nur die zum Engel überhöhte Senta.
Ganz sicher liegt es an dem begnadeten Sängerdarsteller Michael Volle (Rollendebut), dass – dunkle Mächte hin oder her - dieser Holländer so sehr Mensch ist/bleibt. Ein leidender Mensch - besonders da, wo er von der Sehnsucht nach Heimat singt. Dann ist eine so anrührende Grundtraurigkeit in Volles Stimme, auch ein furchtbarer Ernst, ein Schmerz (Duett 2. Aufzug: „…ein schlagend Herz ließ, ach! mir Satans Tücke, daß eingedenk ich meiner Qualen bleib!“), die mich immer wieder an seinen Amfortas erinnert. Wohl nicht zufällig! Der Holländer braucht Sentas Treue, um sterben zu können – Amfortas braucht Parsifals Tat, um genesen/sterben zu können. Ich habe noch bei keinem Sänger dieser Partie erlebt, dass er das Angewiesensein auf Rettung durch eine Frau so intensiv ersehnt (pp, as-moll „Dich frage ich, gepriesner Engel Gottes“). Dass Unsterblichkeit eine Strafe ist, ist hier mit Händen zu greifen, zu hören. Mit welcher Verzweiflung er Daland seine Goldbarren hinhält! Volle ist hoch präsent; der weiche Wohlklang seiner Stimme bleibt auch bei stärkster Anstrengung und Erregung ungemindert. Seine sehr gute und sichere Stimmführung einerseits und der Gestaltungsraum, den Peter Schneider ihm eröffnet und ihm mit Dynamik und Tempo geradezu dient, tragen dazu bei, dass ihm das Mitgefühl der Opernbesucher geradezu zufliegt. Wenn er am Ende des Duettes mit Senta Hand in Hand mit ihr die ersten gemeinsamen Schritte nach vorn an die Rampe mehr stolpert als geht, fließt einem leicht das Herz über.
Ricarda Merbeths kraftvolle, wie unter Dauerspannung stehende klare Sopranstimme fühlt sich gerade in den Höhen, die Senta zu singen hat, hörbar wohl. Sie ist wie geschaffen, um diese absolute Unbedingtheit auszudrücken, für die der Tod aus Liebe folgerichtig ist. Die Ballade ist das auslösende Moment; hier entschließt sie sich dazu, nachdem sie nicht nur den Sturm gerufen (johohe!), sondern den Holländer geradezu singend beschworen, sein Erscheinen herbeigezwungen hat. Mehr und mehr wird sie selbst hineingezogen in diesen Mann und nun muss ihre Phantasie Realität werden! Doch Wagner unterbricht uns - Sentas Hoffnung in B-Dur und unsere Spannung – ausgerechnet durch Erik, der 16 Fragen hat (singt). Wenn er die Szene verlassen hat, setzt sie mit der Ballade wieder ein, öffnet langsam die Tür, zunächst ohne hinzuschauen. Dann erschrickt sie. Das Herzklopfen (Pauke, Solo über 6 Takte) setzt sich fort, bis sie die Worte findet: „Mein Vater, sprich, wer ist der Fremde?“
Endlich allein (Duett Nr. 6, Finale 2. Akt) entwickelt sich, vom pp ausgehend, eine unglaubliche Sogwirkung der Gewissheit des Füreinander Bestimmtseins. Der „rote Raum“, der sich hinter beiden öffnet und in große Tiefe reicht, mag für die Gefühlstiefe von Liebe und Schmerz gleichermaßen stehen. Er schildert ihr sein Leid und sie ihre Liebe. Beide setzen ihre Spitzentöne meisterhaft auf den Orchesterklang. Beide geraten „außerhalb von Zeit“ (Realität) – auch für diese Dimension könnte die glutrote Bühnentiefe stehen. Fast magisch ist der Moment, in dem sie erhöht über ihm steht, segnend ihre Hände über sein Haupt hält und ihn dann berühren darf!
Die Überleitung zu Nr. 7 und der Steuermann-Chor waren an diesem ersten Abend der Serie ein unerwartet besonderer Genuss. Das war nicht nur schönstes Animato! Durch das sehr akzentuierte, ja pointiert Spiel (die Punktierung lud die Atmosphäre geradezu auf) war eine Kraft zu hören, anfangs noch lustig, dann demonstrativ, schließlich aggressiv (mehrfach macht die Tuba mit aufsteigenden Tonleitern Druck!), die der Szene entsprach. Erst wurde Erik secciert, dann fielen die Männer über die Mädchen her.
Später entfesselte Peter Schneider geradezu einen Kampf der Chöre (der vorn am Bühnenrand zeitweise vom Holländer „dirigiert“ wurde). Das Gegeneinander mit harschen, dissonanten Klängen, ein chromatisch wüstes Tongemälde, macht die Gefahr bewusst. Wie im Rausch stürzen sie tonal übereinander. Spannung bis zur letzten Sekunde! Sentas Selbstverbrennung ist für mich eine nachvollziehbare Regie-Entscheidung. Der Fliegende Holländer gehört nach Carl Dalhaus nicht in die Tradition der Tragödie, sondern in die des Märtyrerdramas, dem das unbeirrbare Verlangen der Heldin, sich zu opfern, die Bahn vorschreibt.
Im Finale rigorose Akkorde. Die Harfen im Orchestergraben blieben verhüllt und hatten zu schweigen. Der Erlösungsschluss wurde erst 1860 nach „Tristan“ komponiert.
Sein Hausdebut gab in dieser Serie Hans-Peter König als Daland, dessen vokale Statur seiner physischen entspricht. Carole Wilson als Mary bewegt sich zwischen Gouvernante und „stillem“ Halt für Senta, selbst ergriffen und ihr zugewandt. Steuermann Thomas Ebenstein singt seinen Part durchweg mit Kraft, weniger mit lyrischer Leichtigkeit. Herbert Lippert (Erik) geht an seine Grenzen (in der 3. Vorstellung am 11.9. war er stärker). Er müsste gar nicht ständig verzweifelt sein und unruhig Hin und Her gehen. Damit konterkariert er manches, das die Musik (sentimentaler Romanzenton!) zum Ausdruck bringt.
Begeisterte Reaktionen des Publikums, viel Applaus. Ein Abend auf höchstem Niveau!