Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Es geht um die Frage, wie Menschen, die verschieden, vielleicht sogar gegensätzlich denken und handeln, nicht gegeneinander, sondern miteinander leben können.

Paulus richtete dieses Wort an die Christen in Rom. Dort grenzten sich zwei verschiedene christliche Gruppen gegeneinander ab. Sie waren sich uneinig in der Frage, wie christliches Leben auszusehen hat. Konkret: Diejenigen, die sich als die „Starken“ bezeichneten, wollten, dass Christen jüdische Vorschriften nun nicht mehr einhalten dürfen. Diejenigen aber, die als die „Schwachen“ bezeichnet wurden, hielten an ihnen fest. Sie konnten sich noch nicht von ihnen lösen. An dieser unterschiedlichen christlichen Lebenspraxis der „Starken“ und der „Schwachen“ im Glauben drohte die Gemeinschaft auseinander zu brechen. Die Einheit der Gemeinde war bedroht.

Die Frage nach der Einhaltung jüdischer Vorschriften ist für heutige Christen nicht mehr aktuell. Es gibt jedoch andere Streitpunkte, bei denen Christen aneinander geraten und ihre Gemeinschaft in den Gemeinden, den Kirchen und der weltweiten Christenheit zum Teil erheblich gestört ist. Oft habe ich erlebt, wie teilweise bei Nichtigkeiten erbittert gestritten wird und manchmal so weit polarisiert wird, dass die einen „ihr eigenes Ding machen“ wollen. Sie grenzen die anderen aus. Manchmal geben sie zu erkennen, dass sie sogar die besseren Christen seien und ihr Glaube der richtigere sei. Es gibt viele Gemeinden, in denen deshalb die Gemeinschaft gestört oder gar zerbrochen ist.

Von der Einheit der Christen weltweit können wir im Blick auf die verschiedenen Konfessionen der Kirchen und auf die Vielfalt in der Ökumene auch nicht reden. Jeder von uns kennt die vielen Beschwerlichkeiten, die sie und manchmal auch wir miteinander haben.

Wie ist Paulus nun zu verstehen? Will er, dass wir uns Christus als Vorbild nehmen und dann unsere sozialethische Einstellung ändern? Will er also, dass wir unser Herz genügend weit öffnen und dann alles gelten lassen sollen? Dass wir also den anderen Menschen einfach so akzeptieren und annehmen sollen, wie er nun halt mal ist? In dieser Weise wird Paulus oft verstanden und gepredigt, aber damit gänzlich missverstanden. Er ruft nicht zur Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden auf, sondern geht weiter, viel weiter. Er verweist auf Gott, der sich in Christus doch unser angenommen hat. Christus ist hier nicht vorrangig als ein Vorbild dafür zu verstehen, wie wir anderen Menschen begegnen sollen. Paulus verwendet hier das griechische Wort „proslambanomai“, was im Deutschen statt mit „annehmen“ wiederzugeben ist mit „in die Gemeinschaft aufnehmen“. Dieses „Christus hat euch angenommen“ ist so zu verstehen: Gott hat sich unser erbarmt und uns wegen Christus, der Heil und Leben mit sich bringt, und durch den Glauben an ihn in seine Gemeinschaft aufgenommen. Der Sünder ist nun nicht mehr verloren.

So hat Gott gehandelt, und so handelt er an allen Christen. Für alle ist Christus gestorben. Er bindet uns alle zusammen, so verschieden wir auch sind, so verschiedene Frömmigkeiten und Ansichten wir über christliche Lebensstile auch haben. Nicht die unter uns ausgehandelten und praktizierten Gemeinsamkeiten schließen uns zusammen, auch nicht eine irgendwie zustande gekommene Toleranz, sondern die grundlose und grenzenlose Liebe Christi. Da hat also keiner dem anderen etwas voraus; und die bestehenden Unterschiede haben keine Bedeutung mehr. Wie Gott, bzw. Christus, jedes Glied der Kirche in seine volle Gemeinschaft aufgenommen hat, so sollen wir in unseren christlichen Lebenskreis einander ohne jeden inneren Vorbehalt einbeziehen.
Da also niemand mehr dem anderen etwas voraus hat, da niemand mehr besser da steht als der andere, kann das also nicht ohne Folgen auf unser Zusammenleben sein. Christus hat die Barrieren zwischen Gott und uns beseitigt. So können auch die Barrieren, die uns untereinander trennen könnten, nicht mehr wirksam sein.
Nur zu gut weiß aber jeder, dass wir im Umgang und in der Auseinandersetzung mit anderen oft vergessen, dass wir alle es doch nicht wert waren, von Christus angenommen worden zu sein, aber es nun doch sind. Sollen wir nicht vielmehr auch den annehmen, der meinen Vorstellungen über die Art und Weise des Christseins nicht entspricht, über den ich mich dann ärgere und ihm das dann vielleicht auch bei passender Gelegenheit auf den Kopf zu sagen würde? Sollen wir ihn nicht nur ertragen, sondern tragen? Es verlieren sich dann die Spannungen in den Gemeinden und auch zwischen ihnen. Leider aber ist die Realität oft anders. Da gibt es Konkurrenzen um Macht und Einfluss verschiedener Gruppen und auch zwischen Gemeinden. Und immer wieder läuft es darauf hinaus, dass zum Schluss die einen als Gewinner und die anderen als Verlierer dastehen. Das aber ist auf keinen Fall im Sinne Christi.

Nehmt einander an, dazu fordert Paulus auf. Und auch hier ist dieses „Annehmen“ zu verstehen als „in eure Gemeinschaft aufnehmen“. Nehmt einander in eure Gemeinschaft auf, weil ja Christus euch alle in die Gemeinschaft Gottes aufgenommen hat. So meint es Paulus. (Das griechische „kathōs“, oft vergleichend gebraucht und mit „wie“ übersetzt, weist auch auf den Grund hin und ist dann wie hier zu übersetzen mit „weil ja“.)
Nehmt einander in eure Gemeinschaft auf. Diese Ermahnung des Paulus brauchen auch wir immer wieder. Denn schnell und oft ziehen wir ohne näheres Nachdenken Grenzen untereinander, die uns voneinander als Schwester und Bruder im Herrn trennen und unsere Gemeinschaft gefährden.

Aber es gibt natürlich auch nicht nur Spannungen und Grenzen in christlichen Gemeinschaften, sondern auch und heute besonders zwischen Menschen in der Welt, die anders glauben, anders denken und anders leben und handeln als wir. Wie soll unser Verhältnis und unser Verhalten ihnen gegenüber sein? Soll das da auch gelten? Paulus schrieb ja an die Christengemeinde in Rom mit ihren „Schwachen“ und „Starken“. Das ist eine interessante und zugleich aber auch drängende Frage. Denn gerade in Deutschland regt sich z.T. erheblicher Widerstand gegen Asylsuchende, gegen Ausländer, gegen Muslime und Juden. Sie werden ausgegrenzt und bedroht. Manche möchten sie am liebsten nicht mehr in Deutschland haben. Die derzeit immer weiter um sich greifende Bewegung PEGIDA ist dabei, die ganze Gesellschaft mit solchem Gedankengut zu erfassen. (PEGIDA, Abkürzung von „Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes“, ist nach ihrem Selbstverständnis eine Bürgerinitiative, die sich gegen den Islamismus und eine vermeintliche Islamisierung von Deutschland und Europa richtet und dabei an ihren Rändern auch rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut mittransportiert). Uns Christen muss das besonders beunruhigen, auch weil an den vielen Stammtischen ähnlich diskutiert wird. So erklärten die beiden Großkirchen ein klares Nein zu den pauschalen Angriffen der PEGIDA auf eine Religion, auf Flüchtlinge oder Asylbewerber. Sie riefen andererseits dazu auf, dass man sich deren Motive genau ansehen solle, um zu verstehen, warum Menschen bei solchen Demonstrationen mitlaufen. Die Kirchen rufen zum Verstehen der Ursachen auf. Doch genügt das? Wenn wir wissen, was die Menschen zum Demonstrieren veranlasst, können sich zwar die Politik und die gesellschaftlichen Kräfte damit besser auseinandersetzen und darauf reagieren. Doch es bleibt auch dann noch die Frage an die Christen, ob diese Aufforderung, „einander anzunehmen“ bzw. „einander in die Gemeinschaft aufzunehmen“ auch gegenüber Nichtchristen gilt, die uns obendrein fremd sind. Oder genügt letztlich, sie zu tolerieren und sich um sie im Sinne christlicher Nächstenliebe zu kümmern? Schließt Paulus sie aus der Gemeinschaft mit Gott ein oder aus? Angesichts der derzeitigen Situation in Deutschland und z.T. in Europa habe ich diese Frage so zugespitzt.
Die Antwort gibt Paulus selbst, allerdings erst in den der Jahreslosung nachfolgenden Versen. Antwort bekommen wir aber auch z.B. im Epheserbrief (Eph 2,11-22): Christus legt alle Schranken nieder. Er starb auch für die Heiden, um sie anzunehmen. Er wirbt um sie, dass sie dieses Angebot auch annehmen möchten, an ihn glauben, auf ihn hoffen. Er wirbt um sie bis ans Ende der Tage. Er wirbt um sie auch durch uns. Wir brauchen dazu keine Aktionen zu starten. Sondern es bleibt bei ihnen nicht ungehört und unbeobachtet, wie wir über unsern Herrn reden und ihn loben, weil wir von ihm angenommen sind und er unser Leben reicher macht, es neu macht. Es bleibt nicht ungehört und unbeobachtet, ob wir und wie wir Gottes Liebe weitergeben an unsere Mitmenschen. Es bleibt nicht ungehört und unbeobachtet, wie wir auf diese Weise, also in Wort und Tat, Gottes frohe Botschaft verkündigen. Mit unserem ganzen christlichen Leben verherrlichen wir ja Gott mit seiner Liebe und seinem Erbarmen, die allen Menschen gilt. Bei denen, die „draußen“ sind und uns hören und beobachten, wird das – so hoffen wir - vielleicht sogar Interesse wecken. Sie werden sich einladen lassen und vielleicht auch zu Christus finden und ihn erfahren als den, der auch sie annehmen will. Und er wird sie nicht enttäuschen. Für uns ist es selbstverständlich: Die Zusagen, die Gott einst seinem Volk Israel gegeben hat, gelten auch uns Christen, die wir nicht zum alten Gottesvolk gehören. Deshalb gelten sie allen anderen Menschen auch, die zu Christus finden und an ihn glauben, egal, welcher Religion sie vorher angehörten, und aus welchem Kulturkreis sie kommen. Christen hoffen seit jeher darauf, dass alle Menschen bei Gott Platz finden – oder anders gesagt -, dass auch sie sich von Christus in die Gemeinschaft mit Gott aufnehmen lassen.
Unsere christliche Gemeinschaft für Nichtchristen zu öffnen, sie bei uns aufzunehmen, stelle ich mir z. B. dann so vor: Wir gehen uns nicht aus dem Wege und grenzen uns schon gar nicht gegen sie ab. Sondern wir gehen aufeinander zu, lassen uns gegenseitig zu Wort kommen, reden über unseren Glauben und unser Leben. Wir pflegen Gemeinschaft, durch die etwas von der Liebe Gottes erkennbar und erfahrbar wird. Wir kümmern uns um ihre Anliegen und Probleme. Wir laden sie ein in Gottesdienste und gemeindliche Veranstaltungen. Dass daraus ein Ja zu Christus erfolgt, haben wir jedoch nicht in der Hand, aber darauf hoffen wir. Und wenn es so kommt, so ist das ein großer Grund, sich darüber zu freuen und Gott zu loben und zu danken.

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Gott nimmt uns in Christus an und vereint uns weltweit. Alle Menschen dieser Welt, wo immer sie leben und wer auch immer sie sind, sind Gott willkommen wie wir selbst. Keinen Menschen sollten wir anders ansehen als im Zeichen solcher Hoffnung.