„Was bleibt, stiften die Liebenden“ (Jörg Zink; vgl. 1.Korintherbrief 13,13). Diesen Satz haben die Liebenden Wagner und Mathilde erfüllt. Sie haben mit „Tristan“ Bleibendes gestiftet: eine Liebesgeschichte, die an Gefühlsintensität nicht mehr zu überbieten ist. Musik, deren Wirkung kaum mehr in Worte gefasst werden kann. Müsste ich einem Menschen erklären, was Sehnsucht ist, würde ich nur diese Musik sprechen lassen, die Einleitungen der drei „Tristan“-Akte, dazu den Beginn der 2. Szene im 2.Akt, wenn Sehnsucht gestillt wird. Dann wüsste dieser Mensch alles. - Wagner hat mit der Intensität eines persönlich Betroffenen komponiert, der leidenschaftlichstes Ineinander-Aufgehen ebenso erlebt hat wie den öden Tag. Der niemals wieder hinter die Erfahrung dieser Liebe zurück konnte und, dies deutend, kurz nach dem Abschluss des 2. Aktes an Mathilde schrieb: „Wer einmal auf dem Dreifuß (der delphischen Pythia) saß, kann nicht wieder Priester werden: er stand dem Gott unmittelbar nahe“ (Richard Wagner an Mathilde Wesendonck. Tagebuchblätter und Briefe 1853-1871, Berlin 1904, S. 114).
Die Inszenierung macht es leicht, ungehindert der Musik zu folgen. Christoph Marthaler wollte „nichts doppelt machen (inszenieren), was schon in der Musik da ist“ (O-Ton Anna Viebrock, Bühnenbild/Kostüme, in einem Interview 2009). Was bleibt dann übrig?! Not a thing. Das Publikum, das sehen und immer nur sehen will und die Musik allenfalls nebenbei hört, ist enttäuscht. Diejenigen, die sich ganz auf die Musik einlassen, werden ohnegleichen von den musikalischen Welten erfüllt, die das Orchester der Bayreuther Festspiele in seiner ganzen wunderbaren Sprachfähigkeit unter der Leitung von Peter Schneider ausbreitet. Dirigent und Orchester offenbaren das Eigentliche. Dabei reißt die Spannung nie ab. Ich habe viele Stellen neu entdeckt, der 1. Akt ist übervoll davon. Manchmal sind es nur wenige, aber in ihrer Intensität kaum auszuhaltende Takte. So knistert es geradezu bei Iréne Theorins „Tristan will ich erwarten“. Erst recht die drei vorauslaufenden großen c-Moll-Ausbrüche sind für eine Hochdramatische wie geschaffen - sie scheint sie zu genießen. Mit viel Kraft (und Vibrato) in der Stimme, leider meist wortunverständlich, erinnert sie im ersten Furioso („Hört meinen Willen, zagende Winde!“) an eine Rachegöttin. Bei „Mir erkoren, mir verloren…Todgeweihtes Haupt! Todgeweihtes Herz“ lässt sie, stimmlich deutlich zurückgenommen, zu dem Tremolo der geteilten Streicher und im Englischhorn aufsteigenden Liebesmotiv einen tiefen Blick in Isoldes Seele zu, um bei der in Oktaven geformten Raserei „Fluch dir, Verruchter, Fluch deinem Haupt! Rache! Tod!! Tod uns beiden!“ schließlich vollends die Contenance einer Königstocher zu verlieren. Doch kippt die Aggression auch hin und wieder in pp-Trauer („ungeminnt“) und gibt ihrer eigenen Sehnsucht, ihrer noch unausgesprochenen Liebe zu Tristan Raum und die Bestimmung des Todestrankes „für tiefstes Weh, für höchstes Leid“ singt sie ganz zart und verzweifelt. Da stockt einem der Atem.
Die Wirkung des Liebestrankes, die beide überfällt, ist eine der Stellen, an denen ich emotional an diesem Abend wieder einmal geradezu hineingezogen werde. Das Bayreuther Orchester beschreibt hoch spannend, was passiert: ein Zittern, Tremoli der Streicher, die immer heftiger, konvulsivischer werden und mit Liebesmotiven abwechseln, bis beide bei einer überirdischen Fülle von Orchesterschönheit, die mit Holzbläsern, Harfe und tiefen Streichern zustande kommt, ihre Namen nennen. Dann brechen alle Dämme. Leidenschaftlich, immer höher aufpeitschend, trägt sie das Orchester in einen seligen Taumel. Sie halten einander fest, umklammern sich musikalisch mit jedem Takt mehr. „Welcher König?“ In ihrer Welt gibt es nur zwei Liebende. Der finale C-Dur-Jubel, der König Marke gilt, kommt aus einer anderen Welt und klingt grell, mit unheildrohendem Unterton.
Nachdem Michelle Breedt als Brangäne mit Angst und Verzweiflung in der Stimme und auch darstellerisch äußerst präsent und intensiv Isolde vor Melot gewarnt hat, gehört der 2. Akt den Liebenden. Schon die Tonmalerei des Wiedersehens sucht ihresgleichen. Sehnsucht, Erwartung, dann der entzückte Aufschrei des ganzen Orchesters, wenn sie in Tristans Arme stürzt, beide atemlos vor Glück, mit Isoldes starken Spitzentönen (c‘‘). Von nun an finden die Wellen der Gefühle mehr und mehr zum Einklang, wobei die Harmoniebewegung (trotz vorgezeichnetem As-Dur) nie aufhört. Obwohl kein Bayreuth-Neuling mehr, erlebte ich an diesem Abend erstmals, dass das Orchester als eigenständige Person auf der Bühne war. Peter Schneider gelang die Balance so perfekt, dass Sänger und Orchester auf „Klanghöhe“ zusammen kamen: Tristan und Isolde und das Orchester. Weder Live-Übertragung noch CD oder DVD (dort werden die Sängerstimmen akustisch immer nach vorn geholt) werden diese Wirkung jemals einfangen, wenn das Orchester Partner der Sänger auf Ohrenhöhe ist, natürlich ohne irgendetwas zuzudecken, sondern wie ein echter Partner stützend, verbindend, mit den Sängerstimmen die Gefühle (innere Handlung!) erzählend, mit derselben glasklaren Präsenz wie die Sänger. Mich versetzte es gleichsam in einen überwachen Glückszustand, als ich dieses Wunder anfing zu begreifen.
Und dann nimmt Peter Schneider für ein paar Sekunden das Orchester (Tempo und Dynamik) partiturgemäß zurück und…hebt ab. Die Stimmen harmonieren miteinander, kommen sich nah, Protagonisten und Dirigent atmen zusammen, sind musikalisch einander so vertraut, dass „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ ein einziges Baden in Wellen von As-Dur-Wohlklang ist. 1837 schreibt Ferdinand Gotthelf Hand in seiner „Ästhetik der Tonkunst“, das sei „die Tonart, bei welcher die Seele für ein Überirdisches aufgeht und Ahndungen eines Jenseits oder einer höheren Beglückung fließt… und erhebt zur Unendlichkeit eines seligen Gefühls“. Schöner kann man es nicht sagen, und das Sprechvermögen des Orchesters ist hier einzigartig. „So stürben wir, um ungetrennt“ wird zum wunderbaren Höhepunkt wortlosen Gefühls-verständnisses, jenseits der Reflexion, auf der Grenze, in unersättlicher Leidenschaft sich steigernd und steigernd. Der hereinbrechende „öde Tag“ lässt beiden, gewaltsam zurückgeholt aus der tiefsten innigsten Liebesgemeinschaft, keine Wahl. Ihre Liebe bewahren sie nur im gemeinsamen Tod. Dies kann kein König hindern. Robert Holl fesselt, obwohl auf der Szene fast zur Regungslosigkeit gezwungen, mit ebenso liedhaftem Wohlklang. In seiner Stimme ist die perfekte Balance zwischen Schmerz und Enttäuschung, Fassungslosigkeit und Contenance, die nahe geht, Klage, aber nie Vorwurf wird.
Die musikalische Einleitung zum 3. Akt scheint zwischen Leben und Tod zu schweben. Wagner hat mit der „alten Weise“ (leider vom Publikum zerhustet) so etwas wie einen roten Faden komponiert, der Tristans Erinnerung und den Prozess seines Selbsterforschens geleitet.
Robert Dean Smiths Stimme, die für mich ein besonderes Timbre hat, scheint im Vergleich zu den Vorjahren minimal nachgedunkelt. Sie ist anrührend und geht unter die Haut, etwa bei „Ich war, wo ich von je gewesen“ – auch hier sind Solist und Orchester wieder optimal aufeinander eingestellt. Smith gehört zu den wenigen, die den 3. Akt stabil und verlässlich durchsingen. Die Ausnahme (an diesem Abend kämpfte er nach dem euphorischen Ausbruch „Isolde naht“ plötzlich mit einem Frosch im Hals, der sich auch durch Husten/Niesen nicht auflösen ließ) bestätigt dies. Bewundernswert, wie er auf der Szene und Peter Schneider im Graben damit umgegangen sind. Das Orchester übernahm sofort mehr von der Aussage, die sonst stimmlich gestaltet wird. Die Ankunft des Schiffes nach der gefahrvollen Passage habe ich bisher nur von Peter Schneider so stürmisch und dann - geradezu erlöst jubelnd gehört. Wenn Tristan schließlich mit letzter Kraft, aber in höchster Erregung Isolde entgegen gehen will, intonieren die Bässe mit von Takt zu Takt wechselndem Rhythmus das verträumte „barg im Busen sich uns die Sonne“ aus dem 2. Akt. Es wirkt, als schwanke der Boden - ein Schwanken zwischen Todessehnsucht und Lebenssehnsucht (E. Rappl). Wenn Sehnsucht so groß ist, hat sie die Kraft zur Grenzüberschreitung. Der Liebestod, zuletzt im verklärten H-Dur, macht gewiss: Diese Liebe ist für den Tod nicht erreichbar. Das mezzavoce gesungene „ertrinken, versinken“ in den breit fließenden Wogen des Orchestermeeres, die zuletzt aus dem Graben zu fluten scheinen, lässt keine Zweifel offen. Es spricht für die hohe Empfindsamkeit von Peter Schneider, dass er die Hörer am Ende nicht im Gefühlschaos zurücklässt (die Chromatik treibt alle Gefühlslagen in extreme Bereiche), sondern sie so nah wiemöglich an die Stelle bringt, von der aus Isolde für einen Moment über den Horizont hinausblickt. Auch und gerade darin besteht für mich seine Größe.
Die bereits erwähnte Michelle Breedt gestaltet eine Isolde sehr zugewandte Brangäne. Ihr klangschöner Mezzo beweist seine Tragfähigkeit bestens bei den aus dem Orchestergraben gesungenen „Habet acht“-Rufen. Kurwenal ist hier als ein rechter Kauz angelegt - Jukka Rasilainen lässt sich völlig auf diese Deutung ein und singt mit rauer Stimmfarbe. Clemens Bieber interpretiert das Lied des Seemanns recht verträumt, ohne das Spöttische darin zu bemerken. Durchweg lobenswert singen Ralf Lukas (Melot), Martin Snell (Steuermann) und Arnold Bezuyen (Hirt)und die Herren des Festspielchores (Einstudierung Eberhard Friedrich).
Unerwartetes Bayreuth-Debut: Stefan Vinke als Tristan am 16.8.:
Weil Robert Dean Smith aus persönlichen Gründen die Vorstellung absagen musste, sprang nach knapp zweitägiger Vorbereitung der „Leipziger Tristan“ Stefan Vinke ein. Er, der 1999 R.D. Smith in Mannheim „abgelöst“ hat, singt inzwischen alle Heldentenorpartien Wagners. Sein Timbre ist angenehm, wenn er nicht zu viel Druck auf die Stimme gibt. Wunderschön lyrisch klang sein „Wohin nun Tristan scheidet, willst du, Isold‘, ihm folgen?“ Auf der Bühne wirkte er hin und wieder unbedarft-naiv, mehr ein Siegfried denn ein Tristan. Den 3. Akt versuchte er durchzusingen, auch wenn das manchmal zu Atemlosigkeit führte. Das Publikum belohnte ihn mit viel Applaus. Nur ein Wermutstropfen blieb: Vinke hat den „Tristan“ nur in der gekürzten, um 323 Takte gestrichenen Fassung des 2. Aktes studiert, die in Bayreuth nicht üblich ist, aber seinetwegen an diesem Abend gemacht werden musste.