Nachdem der letzte, die Sehnsucht auslöschende und die Liebe zur großen Ruhe bringende Akkord verklungen war, blieb es noch einen Moment still, bis ein erstes „Bravo“ den langen, dankbaren Applaus einleitete. Er gehörte zuerst den Essener Philharmonikern unter der Leitung von Peter Schneider. Die Musiker folgten ihm ebenso freudig wie sorgfältig konzentriert in allen musikalischen Details, dem exakten Schlag ebenso wie dem Vorwärtsdrängen, in den zuspitzenden Finali 1+2 ebenso wie bei den breit strömenden Wellen des Liebesglücks. Crescendi wurden genauestens beachtet, bei aller Dichte blieb der Klang stets transparent und führte so zu einer tiefen Emotionalität.

Flackert zu Beginn des 2. Aktes Isoldes Erwartung noch wie eine Fackel im Winde (Flöten!) so wächst wenig später diese große Sehnsucht nach Umarmung, bedroht von einer scheinbar so romantisch daherkommenden Jagd(!)-Musik, daraus und schließlich lodert im Graben das Feuer bis zum Siedepunkt (2 Takte in von Wagner selten notierten fff), wenn Tristan und Isolde atemlos, den Boden verlierend einander in die Arme sinken („Bist du mein? Hab ich dich wieder?).

Peter Schneider weiß, welche Stürme wie zu bestehen sind; welche Meere er befährt, wo deren Untiefen sind und wo er ankommen will. Ihm gelingt die Balance zwischen Versinken und Emporgehoben-Werden, zwischen dem „tückischen Tag“ und der „süßen, ew’gen Nacht“ immer wieder großartig.

Dass das Bühnenbild (Klaus Grünberg), ein enger Guckkasten-Würfel in nachtschwarzem Raum, die Intensität, ja den Sog der Musik geradezu genial verstärkt, habe ich selten so erlebt. Weil es in diesen Räumen so eng ist, schweift der Blick nicht ab, sondern wird in Barrie Koskys Inszenierung wie mit einem Brennglas fokussiert. Die drangvolle Enge in der Kajüte - als wären alle in ein Schicksalsfach gesperrt - und die daraus resultierenden steifen Bewegungen laden die Emotionen auf. Hier wird unter Hochdruck und Hochspannung gesungen und gespielt, das Messer gezückt und Tristan an die Kehle gehalten.

Auch in dem so ganz anders gearteten 2. Akt geht das Konzept auf. Jetzt stehen die wenigen Kubikmeter Raum für absolute Intimität, die die Liebenden schützt. Selbst ihre Kostüme (Alfred Mayerhofer), die hier in Farbe und Musterung der Tapete im Raum entsprechen, lassen sie eins werden mit dem Raum und miteinander. Die Macht ihrer Liebe bewirkt, dass sich dieser Raum dann im Zeitlupentempo um 360 Grad dreht und ihre Welt irgendwann Kopf steht. Ein unwirklicher Zustand, in dem sich beide traumwandlerisch sicher bewegen, umeinander kreisen, abdriften (...löse von der Welt mich los...), abheben – und wir mit ihnen.

Im 3. Akt versucht Kosky die Öffnung. Jetzt ist beides da: die weite dunkle Küste (Schäfer mit Schafen auf weiter leere Bühne) und das intime Krankenzimmerchen, das Tristan erst zum Sterben verlässt, ja verlassen kann, weil seine Sehnsucht von solcher Größe und Intensität ist, dass sie die Kraft zu dieser Grenzüberschreitung hat. Wie der enge Lebensraum dann, kleiner und kleiner werdend, ins Nichts entschwebt, das ist (auch technisch) großartig gemacht. Nur ist die Leere der großen, nahezu unbeleuchteten Bühne am Ende nicht das, was ich mir unter einem transzendenten Raum vorstelle. „Entrücktheit unter den Umstehenden“, schreibt Wagner als Aufführungsanweisung zum verklärten H-Dur in die Partitur. Das ist auf solcher Szene dann doch nicht zu machen.

An Intensität ist die Isolde von Evelyn Herlitzius - hochdramatische Ortrud, Kundry, Brünnhilde in Bayreuth und andernorts - allerdings kaum zu übertreffen. Im 1. Akt nach knapp 40 Takten das erste ff und damit von 0 auf 100 – das kann sie mit einer bewundernswert durchschlagkräftigen hellen Stimme, die die Töne geradezu herausschleudert und doch weitgehend wortverständlich bleibt. Im Programmheft (S. 13f.) beschreibt die Künstlerin, wie unterschiedlich in den 3 Akten die Anforderungen an den stimmlichen Ausdruck sind. Das „wilde, schöne Tier, gefangen im Käfig seiner Gefühle“ (1. Akt) kann sie perfekt und im 2. Akt führte mich ihre Stimme in eine meditative Versenkung, die die Welt vergessen lässt. Der 3. Akt stelle die „Aufgabe, einen jenseitigen mit einem pastosen Stimmklang zu vereinen“. Diese Aufgabe bleibt ihr (noch). Die Stimme klang mir da noch zu aufgewühlt.

 

Jeffrey Dowds Tristan ist noch im Werden begriffen. Wenn er im 1. Akt vor Isolde erscheint, umgeben von einem orchestralen Panzer des Trotzes, dann ist das noch zu wenig in seiner Haltung erkennbar. Leider war er im Finale des 1. Aktes an einem stimmlichen Tiefpunkt, schlug sich danach aber achtbar, intensiv vom Dirigenten unterstützt. Dowd ist weder physisch noch stimmlich monumental. Doch es gibt Stellen, da berührt er mich mehr als jene hochdramatischen Helden mit schier unendlichen vokalen Ressourcen. Wie er sich auf dem Harfenglissando „Isolde! Wie schön bist du!“ einen Moment ausruht, bevor er die Ankunft des Schiffes geradezu herbei zwingt und dann noch einmal alle Kraft der Verzweiflung in das eine Wort „Verloren!“ packt, das geht nah.

 

Stimmlich auf „Augenhöhe“ sang Martina Dike die Brangäne mit kraft- und klangvollem Mezzo. Rollengemäß verliert sie sich in keinem Moment in Gefühlen, doch einmal mehr bin ich überzeugt: Der musikalische Subtext der „Habet acht!“-Rufe ist nicht die Warnung, sondern eine mitfühlende Glückseligkeit. Heiko Trinsinger überzeugt als Kurwenal vollkommen. Ein großer Bariton, kraftvoll und lyrisch im Ton, tatkräftig (er näht Tristans Wunde!) und doch ahnungslos, wohin Sehnsucht zu führen vermag. Ante Jerkunica gelang ein aufwühlender König Marke, der sich zwar kaum bewegen darf, aber alle Bewegung in die Stimme transferiert. Geradezu liedhaft und ruhig beginnt er seinen Monolog und beendet ihn mit großer, fast baritonaler Stimme, die der tiefen Verzweiflung wunderbar entspricht.

Thomas Sehrbrockals Steuermann, Rainer Maria Röhr als Seemann, Mateusz Kabala als Melot und Albrecht Kludszuweit als Hirte komplettierten kompetent das Ensemble.

„Die Sehnsucht ist die Nabelschnur des höheren Lebens“, schreibt Soeren Kierkegaard. Wenn sie gelöst wird, hebt uns das – schon jetzt – über das Irdische hinaus.

Ohne Musik ist das für mich unvorstellbar.