Joachim Lange (nmz, 30.3.18) titelt seinen Premierenbericht „Im Trockendock“ und meint damit den dunklen, U-förmigen Bühnenraum, mit seinen steil hochgezogenen dunklen Bretterwänden, der schmalen Eisentreppe und winzigen Luken. Es könnte, meint er wenig später, genauso gut ein imaginärer Innenraum sein.
Und schon hat er den Schlüssel zum Verständnis der Inszenierung von Guy Montavon, Intendant des Theaters Erfurt, in der Hand. Sentas Seelenraum ist karg, ihre Wünsche und Ängste hat sie mit Kreide an die Wände gekritzelt: Satan, Ewigkeit, Hoffnung, Liebe - und immer wieder Erlösung, Treue. Dass sie, in deren innerpsychisches Erleben wir 3 Akte lang blicken, logischerweise von Anfang an auf der Bühne präsent sein muss, ist nur folgerichtig. Auch, wenn das im 1. Akt hin und wieder zu irritieren oder auch nur abzulenken vermag. Ab dem 2. Akt passt es (fast) und überzeugt (weitgehend).

Interessant ist, dass nicht alle Personen Sentas Seelenraum über die schmale Eisentreppe betreten können. Dem Vater Daland (Kakhaber Shavidze) und Erik (Eduard Martynyuk) gelingt es, Mary (Katja Bildt) kann es nicht. Der Holländer aber ist bereits in diesem Raum - bei seinem Auftritt im 2. Akt wird er geschickt aus dem Dunkel des Bühnenhintergrundes herausgeleuchtet, wo tosende Wellen projiziert werden, in denen zur 3. Strophe der Ballade seine Züge erkennbar sind. Allerdings geschieht das erst zu „Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten...“, wenn der Vater Sentas Seelenraum verlassen hat. Dass der Holländer nicht mit dem Vater zusammen eintritt (wo es komponiert ist), irritiert anfangs, denn Textstellen wie „Mein Vater, sprich, wer ist der Fremde?“ oder (Daland an Holländer) „Hab ich sie zu viel gepriesen?“ laufen leer. Konzepte haben es eben an sich, dass sie nicht 100%ig funktionieren. Man muss es sich auch einreden, dass es Sinn macht, wenn Senta im 3. Akt während der gesamten Matrosen/Spinnerinnen-Chöre vorn am Bühnenrand mit pantomimischer Leidenschaft ihre Hochzeit mit dem Holländer spielt und dabei mit Hilfe eines Schleiers bzw. eines Zylinders abwechselnd in beide Rollen schlüpft.

Was immer funktioniert und beeindruckt, ist Hank Irwin Kittels Bühnenbild, das von einem stattlichen, 6 m hohen und 11 m langen rostroten Schiff dominiert wird. Es ist so mächtig, dass es im 3. Akt schließlich die Bühne in zwei Hälften teilt, Senta von Erik trennt und zugleich im Finale dem Holländer im blutroten Mantel auf einem Podest im Bug prominenten Ort gibt, in ca. 4 m Höhe fast schon über dem Orchestergraben. Schaudernd schön ist das, ansonsten ist vom Sujet der Gespenster-Oper nicht mehr viel übriggeblieben. Bis auf dieses Finale wirkt der Holländer eher brav, und er singt häufig auch so. Todd Thomas, der sich auf seiner homepage zur Recht als Verdi-Bariton bezeichnet (aus seinen zahlreichen Verdi-Partien, mit denen er in fast allen großen Opernhäusern Nordamerikas gesunden hat, leuchten Alberich und Holländer heraus), hat eine warme, weiche, nicht sehr focussierte Stimme, die Kelly Gods durchschlagkräftigem Sopran mindestens im 2. Akt („Er steht vor mir...“) den Vorrang lässt.

Eine doch nicht recht glücklich machende Entscheidung ist die Entscheidung für die Fassung von 1860 mit drei Akten, Pause nach dem 1. Akt und dem Erlösungsschluss. Sie hat mindestens den einen großen Nachteil, dass der 2. Akt mit der "falschen" Musik beginnt: mit dem Matrosenchor und eben nicht mit der Ballade. Das nimmt ihr die zentrale Bedeutung. Ich habe Lacher gehört, als Senta von Beginn des 2. Aktes an bis zum Beginn der ersten Balladenstrophe, und das ist eine gefühlte Ewigkeit lang, mit dem Fahrrad die liegende 8 - also das Zeichen für Unendlichkeit - in ihrem Seelenraum fuhr. Dass Kelly God es dennoch schafft, danach die Ballade in ihrer Dynamik sehr zu differenzieren und darstellerisch großartig zu gestalten, verdient große Hochachtung.

Die „Erfurter Fassung“ hat aber noch eine Besonderheit, die mich schlicht verärgert hat. Ich gebe zu, mit einiger Spannung auf den „Geisterchor“ der Holländermatrosen gewartet zu haben. Es ist nicht leicht, das zu dirigieren und auch nicht, hinter der Bühne die Choreinsätze zu koordinieren (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Also: Hochspannung bei mir. Partiturgetreu setzt die Windmaschine ein, die Holländermatrosen singen, kommen aber gar nicht bis zu "Schwarzer Hauptmann geh an Land...", sondern die Norwegermatrosen fallen gleich wieder mit ihrem "Steuermann, lass die Wacht" ein, als ob es die 6 Partiturseiten dazwischen, die der Geisterchor zu singen hat, nicht geben würde! Es gibt - wahrscheinlich von Wagner selbst - einen vernünftigen Strich, aber keinesfalls so! Kaum jemand hätte sich an einer Tonaufnahme, der Einspielung des Geisterchores gestört. Fehlte für eine solche Koordination dem Dirigenten die Erfahrung? Am Chor (25 Herren) kann es nicht gelegen haben, der war top!

Xu Zhong, derzeit GMD des israelischen Haifa Sinfonieorchesters, Direktor der Fondazione Arena di Verona, Intendant des Opernhauses Shanghai und Chefdirigent des Suzhou Sinfonieorchesters, beweist in seinem Wagner-Debut eine erstaunliche Einfühlsamkeit. Man spürt ihm den Respekt vor der Musik ab. Ohne große Geste, aber in guter Kapellmeistermanier leitet er das Philharmonische Orchester Erfurt, verstärkt durch die Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach. Es wird dicht und mit gutem Gefühl für die Tempi musiziert.
Die solistischen Leistungen sind - bis auf Eduard Martynyuk (Erik) rollendeckend. Bei ihm wird das Spielzeitmotto „Auf gut Deutsch“ leider zur Farce, denn mit Umlauten steht er auf Kriegsfuß, was bis zur Textunverständlichkeit führt - da nützt auch ein klangvoller tenoraler Schmelz nicht viel.

Guy Montavon inszeniert die Oper in einen Rahmen. Hat anfangs noch irritiert, dass während der Ouvertüre (nach dem Erlösungsmotiv) sich plötzlich der Vorhang öffnete und eine Menschengruppe entsetzt in die tosenden Wellen starrt, so schließt sich zum Erlösungsschluss der Kreis. Das Bild wiederholt sich, als Senta von den tosenden Wellen verschlungen wird. Entsetzt starren ihr alle hinterher, nur Erik steht abgewandt. Warum dieses Entsetzen? Die Spinnerinnen, die Matrosen - sie konnten doch in Sentas Seelenraum/-verfassung hineinsehen, wenn auch nur durch kleine Luken!
Sind die Gefühle der Protagonisten zu groß für die „kleinen Leute“? Senta und der Holländer sind von Sehnsucht getrieben. Er sehnt sich nach der Erlösung vom verfluchten Leben, sie sehnt sich nach Erlösenkönnen, nach der Möglichkeit, sich für einen Menschen zu opfern. Davonlaufen kann sie nicht - was das Bühnenbild sehr klar macht! Die Tür am Ende der Eisentreppe ist möglicherweise nur von außen zu öffnen. So muss sie in ihrer Welt bleiben und imaginieren, was ihr anders nicht möglich ist, was ihr das Leben nicht gewährt.
Man darf gespannt sein, wie das Publikum in Shanghai die Inszenierung aufnimmt. Xu Zhong, Direktor des Shanghai Grand Theatre, hat im Rahmen der bereits bestehenden Kooperation der beiden Bühnen dazu eingeladen. Die Vorstellungen sind für den 13. und 15. September geplant.