Am Bett einer sterbenskranken Frau versammeln sich ihre Kinder. Sie will sie noch einmal sehen, bevor es ans Sterben geht. Und sie hat ihnen noch etwas zu sagen - für die Zeit nach ihr. Die Kinder liebten ihre Mutter. Sie war ihnen immer der ruhende Pol, ein Ort der Geborgenheit und Zuflucht. Ein Mensch mit einem Herz voller Liebe und einem Leben, das andere in diese Liebe mit einschloss. „Was wird werden, wenn sie nicht mehr da ist?“ Das fragten sich die Kinder in letzter Zeit häufiger. „Sie wird uns sehr fehlen“, darin waren sich alle einig. Und natürlich fragten sie sich auch, ob sie es auch ohne sie schaffen würden, ihr Leben weiterhin in solcher Geborgenheit und Liebe zueinander zu leben trotz der vielen Belastungen, Zweifel, so mancher Traurigkeit und Zukunftsangst.

Die Mutter bittet ihre Tochter, den Vers 9 aus dem 15. Kapitel des Johannesevangeliums vorzulesen.

Die Bibel, das wussten die Kinder, war der ständige Lebensbegleiter ihrer Mutter. Bei ihnen selbst hatte sie diesen Stellenwert nicht mehr. Anderes hatte sich in ihrer Lebensgestaltung nach vorn geschoben: das Studium, der Beruf, die eigene Familie, die einen sehr forderte, und vieles mehr. Nicht, dass sie keinen Glauben mehr hatten. Doch so ausgeprägt wie bei ihrer Mutter, so war er nicht.

Die Tochter liest diesen Verso vor: „Jesus Christus spricht: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!“ Ja, diese Worte sind den Kindern vertraut - von ihrer Mutter. Es war ihr Konfirmationsspruch. Sie kam oft in ihrem Leben auf ihn zu sprechen - vor allem dann, wenn es Schwierigkeiten in ihrem Leben und mit ihrem Mann und den Kindern gab. Doch nun, in dieser Stunde, bekommt dieser Ausspruch Jesu einen seltsamen Klang - einem Vermächtnis gleich. Nach einer Weile des Schweigens sagt die Mutter mit leiser Stimme: „Mich hat dieses Wort in den Stürmen des Lebens am Leben erhalten. Und auch der Tod wird mich nicht von dieser Liebe abschneiden können.“ Und nach einer Weile der Stille ergänzt sie mit kaum vernehmbarer, kraftloser Stimme: „Das ewige Leben bleibt.“ Das waren ihre letzten Worte. Wenig später verstarb sie.

Auch nach dem Tod der Mutter dachten die Kinder immer wieder an diese letzte Begegnung. Sie ahnten, dass die letzten Worte von eine tiefen Wahrheit redeten, die fürs Leben wohl eine außerordentliche Bedeutung haben müssten. Doch sie vermochten sie nicht zu erfassen. Den ältesten Sohn beschäftigte das so sehr, dass er eines Tages zur Pfarrerin ging. Sie kannte die Mutter sehr lange und hielt auch die Trauerfeier. Er brauchte mehr Klarheit, um die tiefe und wohl auch für ihn bedeutsame Wahrheit erfassen zu können. Und so knüpfte er an das Trauergespräch an, in dem die Kinder auch über die letzten Worte und Stunden mit ihrer Mutter sprachen. Schnell kam er zu den Worten der Mutter, die ihn besonders ansprachen: Das ewige Leben bleibt. Er fragte, wie sie das wohl gemeint haben könnte. Ewiges Leben, wenn überhaupt, das gebe es doch erst nach dem Tod. Die Pfarrerin versucht, mit einfachen Worten zu erklären: „Jesus hat, das wird vor allem im Johannesevangelium deutlich, unter ewigem Leben immer ein neues, wahres, erfülltes Leben verstanden, das schon jetzt beginnt in dem Moment, in dem Menschen sich für den Glauben an ihn entscheiden. Sich von ihm existentiell ergreifen lassen, das gibt unserem Leben eine neue Qualität und führt in ein erfülltes Leben hinein. Und das hört mit dem Tod nicht auf, sondern wird dann vollendet.“

Unwillkürlich sah der Mann seine Mutter vor seinem inneren Auge, sah Szenen und Fragmente, in denen sie genau das ausstrahlte - erfülltes Leben. Und ihm fiel wieder ein, wie oft sie doch eigentlich auf ihren Konfirmationsspruch zu sprechen kam. Er muss für sie eine ungeheure Kraft entfaltet haben. Im Gespräch darüber meinte die Pfarrerin: „Wer sich auf Jesus einlässt, der spürt seine Liebe, die von seinem Vater im Himmel kommt. Der merkt, dass er nicht auf sich allein gestellt ist, sondern geführt und begleitet wird und Jesus die Sorgen mitträgt. Der wird durch ihn getröstet und auch von Schuld und Angst befreit, kann mit Bedrohungen des Lebens besser umgehen und Lasten leichter tragen. Unzählige Menschen zu Jesu Zeiten und bis heute haben das so erfahren. Es ist die Liebe Jesu, die sich darin zeigt. Sie lässt aus uns schwachen Menschen solche werden, die wie Ihre Mutter ihr Leben als ein glückliches und erfülltes sehen und bezeichnen, das Gott in seiner Liebe selbst durch den Tod hindurch bewahrt und vollendet wie das seines Sohnes Jesus Christus.“

Nachdenklich geworden sagte der Mann: „Nun verstehe ich viel besser, warum meiner Mutter dieser Spruch Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! so ungemein wichtig war.“ „Man kann es sicher auch so sagen“, ergänze die Pfarrerin, „Ihre Mutter war an den Kreislauf der Liebe Gottes angeschlossen. Wer Anschluss an Jesus gefunden hat, steht mit der Kraft seiner Liebe in Verbindung. Der kann dann anders leben und kann auch anders sterben. Er hat das ewige Leben bekommen und wird es durch den Tod nicht verlieren. Sondern es wird von allem Irdischen entkleidet und unvergänglich vollendet.“

„Dieser Konfirmationsspruch meiner Mutter. Das ist demnach bestimmt ein Wort zu einem Leben, bei dem wohl nichts offen bleibt.“ Diese Erkenntnis ging diesem Mann seitdem immer wieder durch den Kopf. Und er nahm sich vor, auch den vielen anderen Worten Jesu nachzugehen. Da sind bestimmt Worte dabei, so dachte er, die für sein eigenes Leben wichtig sind - Worte zum Leben.