Man muss dieser Musik eine eigene innere Stabilität entgegensetzen, sonst greift sie einen bis in den Personkern hinein verstörend an. Bitonale Akkorde zerren an den Nerven – Strauss komponiert hoch emotional. Vom ersten Takt an ist eine aggressive Spannung da, die erst beim Erscheinen von Orest umschlägt. Abgründe tun sich auf, Jubelschreie reißen mit. Das philharmonische Staatsopernorchester musiziert unter der Leitung von Peter Schneider ebenso intensiv wie durchhörbar. Während des ganzen Stücks sind komponierte Finessen in einzelnen Instrumenten herauszuhören, z.B. die Harfe am Ende von Elektras Monolog oder die Seufzer der Oboen über dem Königsthema, wenn Elektra sich erinnert „…und war doch eines Königs Tochter. Ich glaube, ich war schön“.

Ich habe selten erlebt, dass sich ein Orchester bei dem finalen Tanz (rhythmisch kippt er zuletzt aus dem 4/4 in den 9/4-Takt) derart in einen Rausch spielt! Es gibt eben Dirigenten, bei denen sich die vor ihnen sitzenden Musiker selbst übertreffen.

Faszinierend, dass Elektra in ihrem Anfangsmonolog schon das Ende voraus weiß – die Tanzmotivik klingt am Ende deutlich an. Sie ist sich ihres Sieges sicher, notfalls geht sie allein ans Werk. Es ist wie ein Zwang. Auch im Dialog mit der Mutter („Wenn das rechte Blutopfer unterm Beile fällt, dann träumst du nicht länger!“), ist das Tanzmotiv wieder da!

„Elektra“ ist für mich der Beweis, dass Gefühle verändernde Kraft haben, positiv wie negativ, in beide Richtungen. Trauer, Wut und Hass, mit denen wir in dieser Oper intensivst konfrontiert werden, setzen ein normales Leben außer Kraft. Tiefe Liebe aber – auch das erleben wir – verwandelt. Die innigen Gefühle für Orest, der Glücksrausch des Wiedersehens lassen Elektra wieder zur Frau werden! Nach dem rasenden Aufschrei des Erkennens steht sie im Kleid da, nicht mehr im Hosenanzug! Es ist die einzige Stelle, an der sie Beziehung zulässt (wenig später weist sie Orest wieder zurück) - und das hört man im ganzen musikalischen Duktus.

Das Gegenteil ereignet sich, als die Mutter Elektra (einen Eisblock!) umarmt und sie ihr die für sie selbst alles entscheidende Frage stellt und prompt zurückgewiesen wird. „Läßt du den Bruder nicht nach Hause, Mutter?" Uwe Eric Laufenberg hat dies klug als Wendepunkt inszeniert. Denn von dieser Sekunde an gibt es kein Halten mehr. Elektra, die vorher häufig wie eine Sphinx da saß oder stand, wird nun geradezu wild, ringt mit der Mutter, lässt sie im Rollstuhl gegen die Wand knallen, umwirbt die Schwester, berührt sie, tanzt mit ihr - sie gibt ALLES in durchaus mehrdeutigem Sinn. Obwohl Orest die Tat vollzieht - Ägisth wird in dieser Inszenierung durch den Pfleger des Orest erwürgt - (Il Hong, kaum wortverständlich) vollzieht Elektra die Tat mit und schlägt Bruchteile von Sekunden nach dem letzten Schrei Klytämnestras mit Verve das Beil in die Wand! „Die Tat ist wie ein Bette, auf dem die Seele ausruht…“ - braucht es mehr als diesen Satz, um „Elektra“ von Anfang bis zu ihrem hier nicht inszenierten Ende zu verstehen?!

Nina Stemme ist eine stimmstarke Elektra mit mühelos klangschönen Spitzentönen und unglaublicher Kraft. Sie überzeugt ebenso an den Stellen, die geradezu abgehoben weite Bögen erfordern („O lass deine Augen mich sehn, Traumbild, mir geschenktes…“) oder weiche Anschmiegsamkeit und diese selige Süße der Vorfreude auf Ägisth’s Tod erfordern. Die Wirkung, die dadurch entsteht, dass sie eben gerade nicht sofort extrovertiert ihre Wut herausspielt, hat mich verblüfft.

Ebenso großartig die Chrysothemis von Gun-Brit Barkmin deren stimmliche Leuchtkraft im Spitzenbereich immer stärker und heller zu werden scheint. Großartig ihr Ausbruch nach der Tat – das sind Freudenschreie! „Ich muss bei meinem Bruder stehn!“Ebenso gehen ihre Angstrufe nach Orest, mit denen sie am Ende auf leerer Bühne zurückbleibt, unter die Haut. Anna Larsson (Klytämnestra) war bedauerlicherweise stärker optisch als stimmlich präsent. An diesem Abend störte ihr Vibrato, verschluckte Töne und folglich Textunverständlichkeit.

Matthias Goerne (RD) überzeugt als Orest. Es gelingt ihm, die starke innere Erregung, unter der er von Anfang an steht, mit der Stimme zu transportieren.

Recht seriös im Klang und Spiel ist Herbert Lippert (Ägisth), in den kleineren Partien fallen Thomas Ebenstein als junger Diener, Ulrike Helzel (3. Magd) und in besonderer Weise Ildikó Raimondi (5. Magd) auf.

Die Anspannung des Publikums entlud sich Sekundenbruchteile nach dem letzten Ton in Jubel und Bravi, insbesondere für Nina Stemme, Gun-Brit Barkmin und Peter Schneider. Es gibt nur sehr wenige, die die musikalische Sprache von Richard Strauss, deren Gefühl und Grammatik, also seine persönliche Ausdrucksweise so verstehen.

Die letzte Vorstellung der Serie am 25. November wurde per livestream übertragen. Hier bekam Regine Hangler, seit der Spielzeit 2013/2014 Ensemble der Wiener Staatsoper engagiert, ihre Chance als eine Chrysothemis mit beachtlich heller, durchdringender Stimme. Den Orest übernahm Iain Paterson mit schon fast zu lyrisch weicher Stimme. Die live erlebte Intensität ist nicht übertragbar, zu viel Balance wird technisch dazwischengeschaltet.