So mag es auch in manchem viktorianischen Wohnzimmer Weimars am 23. Dezember 1893 zugegangen sein, an dem Tag, an dem Richard Strauss die Uraufführung der Oper leitete. Vater, Mutter, Großmutter und vier Kinder schauen fasziniert die Bilder an, die eine Laterna magica auf die Wohnzimmerwand projiziert. Wer möchte da schon schlafen gehen! Kein Wunder, dass zwei Kinder zurückschleichen, die Vorstellung für sich fortsetzen und sich sogar trauen, eine Hexe (Stabpuppe aus dem Schattentheater) im Licht der Laterna magica reiten zu lassen. Plötzlich fällt die Leinwand zusammen und gibt den Weg in den blauen Wald frei, in den die Kinder magisch hineingezogen werden. Die bizarren Scherenschnitt-Bäume erinnern mich seltsamerweise an die peitschende Weide am Rande des verbotenen Waldes auf dem Schulgelände von Hogwarts. Doch noch bleibt alles friedlich.

Geradezu liebevoll ist das Märchen von Hänsel und Gretel inszeniert, ebenso liebevoll, geradezu filigran klingt das philharmonische Staatsopernorchester. Den Stimmungs-umschwung, wenn der Vater von der Hexe erzählt, die wachsende Angst der Mutter, die Steigerung bis zum Ausbruch bzw. Aufbruch der Eltern – Christian Thielemann lässt das differenziert Klang werden. Gretels wie auswendig gelernten und hergesagten Glaubenssatz „Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht!“ entwickelt Humperdinck über die Gebetsbitte im Abendsegen (Thielemann nimmt hier das Orchester so stark zurück, dass es wirklich zum gesungenes Gebet der beiden Kinderstimmen wird) im F-Dur im Finale zur festen Gewißheit – und das kann man hören! Zum besonderen Klang-Erlebnis wurde für mich das Vorspiel zum zweiten Bild mit der optisch wunderbar auf den Zwischenvorhang projizierten Wanderung der Kinder durch den Wald. Es scheint, als ob die Bäume nach ihnen greifen!

Ein Kostüm-Erlebnis bieten Sandmännchen mit meterlanger Wolkenschleppe und Taumännchen mit tropfenglitzerndem Riesenschleier. Annika Gerhards sieht in beiden bezaubernd aus, darf aber noch an ihrer Wortverständlichkeit arbeiten. Der Mond, der (Pantomime 3. Szene) über den Wolkenkindern wacht, hat natürlich ein Gesicht, gähnt, schaut, schließt die Augen. Spätestens hier dürfte klar sein, dass sich der Regisseur gut in Kinderseelen einfühlen kann. Dass jedes dieser Kinder ein Stück Wolke mit sich führt (nur Erwachsene sehen da Luftballons), die sie zu einem großen Wolkenbett zusammenfügen, ist ein zauberhafter Einfall und wunderbar studiert von den Kindern der Opernschule und Studierenden der Ballettakademie). Dass Schmetterlinge über die Szene schweben (Symbol für Sterben und Auferstehen) rührt wirklich an – ebenso wie das große Crescendo.

Humperdinck hat die Kunst der Leitmotivtechnik hervorragend beherrscht. Zum Beispiel wird im Vorspiel zum dritten Bild die zunächst ganz unauffällige Hornbegleitung zu dem Weckruf der Oboe später zur Lockweise der Hexe und damit zu einem der wichtigsten dramatischen Leitmotive. Vater Peters Ruf „Kauft Besen!“ wird zur „Hexenquarte“. Und ist das Hexenlachen mit den charakteristischen Vorschlägen (Achtel in den Flöten) nicht schon im Tanzduett der Kinder angelegt, als sie ihre Pflicht vergessen? Haben gar Abendsegen und Zauberformel der Knusperhexe motivisch etwas gemeinsam? Da war ein Könner am Werk!

Mit dem 3. Bild kommt die Gefahr. Dem Wald ist nicht zu trauen, die Bäume wechseln beliebig den Ort. Ein Lebkuchenhaus wächst aus seinem Boden - nur die quirlige komponierte Freude der Kinder über dieses Zauberwerk lässt sie das riesige Hexenauge gar nicht wahrnehmen. Sie reden es sich schön: „Die Englein haben’s uns hergebracht!“ Doch im Nu füllen riesige Möbel (Käfig, Tisch, Ofen) die Szene. Die Hexe selbst stattet der aus Chichester stammende Regisseur Adrian Noble very british, mit Harry Potter Accessoires aus. Die magischen Hilfsmittel, Zauberstab und fliegender Besen (Nimbus 2000?) sind ebenso vorhanden wie Harrys Brille und Seitenscheitel. Zu den Zaubersprüchen schwingt die Hexe den Zauberstab auf Potter-Art. Köstlicher Einfall: Gretel als Zauberlehrling– sie versucht, ebenfalls den Zauberstab zu schwingen und sich den Spruch zu merken: Hokus, pokus, Holderbusch…! Harry-Potter-Fans werden sich sofort an den Lähmzauber und seine Formel (Impedimenta – lat. impedio: fesseln) erinnern, mit dem man seinen Gegner inmitten der Bewegung erstarren lassen kann.

Die Hexe wird in ihrer ganzen Ambivalenz gezeigt: sie ist hübsch und jung, trägt schwarzgelbe Ringelstrümpfe, benützt einen blutigen Fleischwolf und fliegt in blutiger Schürze auf dem Besen durch die per Video eingespielten Wolken. Der Grat zwischen Albernheit und zauberhaftem Ernst ist bei dieser Figur so schmal - hier wird er gewahrt. Der Knusperwalzer hat bei aller Durchschlagkraft auch ein Augenzwinkern. Michaela Schuster (RD) ist für diese Partie eigentlich eine Überbesetzung. Nachdem hier heutzutage häufig ein Spieltenor eingesetzt wird, mußte ich mich erst wieder an den Mezzo-Klang mit seinen spezifischen Facetten gewöhnen.

Leider gibt es beim Übergang von der 3. zur 4. Szene (Kuchenkinder erscheinen) szenisch ein „Loch“. Die Szene geht sich auf die Musik nicht aus und mir erschließt es sich auch nicht, warum Gretel ihren Bruder (nachdem die Hexe im Ofen ist) aus dem Haus schickt, um einen Korb mit Süßem zu holen. Der Ofen qualmt nur leicht, Hexenküche verschwindet unspektakulär und man hat den Eindruck, es sei mehr Musik da als Handlung übrig. Unvermittelt erscheinen die in Lebkuchen verwünschten Kinder. Im Finale werden retrospektiv die Themen der Ouvertüre aufgegriffen und geradezu zelebriert.

Daniela Sindram ist ein souverän-robuster Hänsel, Ileana Tonca (Gretel) hat mir stimmlich am besten im 3. Bild, 1. Szene gefallen – ihr „Tirelireli, ‚s ist nicht mehr früh!“ klang so silbrig schön. In schönster stimmlicher und darstellerischer Natürlichkeit Adrian Eröd (Vater Peter) und Janina Baechle (Mutter Gertrud), die in der 2. und 3. Szene des 1. Bildes aus den Rollen wirklich alles herausholen.

Geradezu begeisterter Applaus vom Publikum, von dem ich viele leuchtende Augen und glückliche Seufzer gesehen und gehört habe.