Energie! Im 2. Freitagskonzert des Beethoven-Orchesters Bonn war sie dreimal zu hören: Die Energie des 17jährigen W.A.Mozart, hineingeschrieben in seine Sinfonie Nr. 25 in g-Moll, die Energie des 26jährigen Cellisten Maximilian Hornung, der das selten zu hörende Konzert in einem Satz für Violoncello und Orchester Nr. 1 G-Dur op. 42 von Hans Pfitzner interpretierte, und die energische Interpretation der 4. Sinfonie e-Moll op. 98 von Johannes Brahms durch das Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung von Peter Schneider.

 René Michaelsen (Uni Köln) sprach in der Konzerteinführung von der „proromantischen Ästhetik“ der sog. „kleinen g-Moll“ – das zeigt, wie weit Mozart hier kompositorisch nach vorn greift. Zum Träumen ist diese Sinfonie gewiss nicht geeignet, mit ihrer pulsierenden Intensität und Ernsthaftigkeit, ihrer treibenden Energie und Spannung. Teile des 1. Satzes könnten eine Fechtszene untermalen! Das erste Thema des 2. Satzes, ein Motiv mit drei abwärts gehenden Achteln, das versetzt zwischen den Violinen und dem Fagott im Dialog, später auch im Bass erklingt, wirkt durch das fp auf dem jeweils ersten Ton wie ein Seufzer, aber voll Hoffnung. An wen denkt er? Jedenfalls weiß der junge Mann, wo er Trost findet.

Im Menuett - das Trio hätte ich mir etwas homogener (Hörner!) gewünscht - hört man wieder den trotzigen Willensstarken, der sich im letzten Satz (Allegro!) noch einmal steigert. Donner grollt, Blitze zucken – jedenfalls im Kopf des Komponisten. Peter Schneider hat das untrügliche Gespür für die differenzierte Dynamik und Rhythmik, für die Spannung dieser Sinfonie (da klingt keine Wiederholung wie die andere).

 Hans Pfitzners Cello-Konzert ist eine Rarität, selten zu hören, was man nur bedauern kann. Das einsätzige Werk (Aufführungsdauer ca. 16 min) ist eigentlich eine Sinfonie en miniature (der ganze Sonatensatz ist abgebildet). Das Thema gehört von Anfang an dem Solisten. Ein Pizzicato der Kontrabässe, ein leiser Wirbel der Pauke, und das Cello setzt ab dem 3. Takt mit dem 19 Takte umfassenden Kopfthema ein. Es folgt ein ganzes Spektrum von Klang-Emotionen, immer wieder schwärmerisch-verträumt, durchdrungen von dunklen und ängstigenden Abschnitten, dazwischen spröde, wie vom Zerfall bedroht, schließlich mit leidenschaftlichen Ausbrüchen und am Ende wieder in der lyrisch-verhaltenen Anfangsstimmung.

Pfitzner selbst hat allerdings denjenigen widersprochen, die in diesem Werk die Abgeklärtheit und Heiterkeit des Alters sehen wollten. In den Jahren nach dem Tod seiner Ehefrau (1926) verließ ihn seine Schaffensfreude; Komponieren sei ihm, wie er schrieb, nur mehr „dumpfe Pflicht“. Zu hören ist das nicht. Peter Schneider hat mit dem Orchester und dem 26jährigen Cellisten Maximilian Hornung eine anrührende Interpretation erarbeitet. Der Solist spielte energisch, kraftvoll, selbstbewusst, zugleich auf erfreulich unprätentiöse Weise beseelt und wurde nicht ohne Zugabe in die Pause entlassen.

Über Brahms 4. Sinfonie e-Moll schrieb Richard Strauss, 1885 Zweiter Kapellmeister der Meininger Hofkapelle, des Uraufführungs-Orchesters, an seinen Vater: „Seine neue Sinfonie ist …ein Riesenwerk, von einer Größe der Konzeption und Erfindung, Genialität in der Formbehandlung, Periodenbau, von eminentem Schwung und Kraft, neu und originell und doch von A bis Z echter Brahms…“ (zitiert von Heidi Rogge, Programm, S.11). Peter Schneiders Interpretation lässt diese Kraft hörbar werden, das klare, erhabene Bewusstsein von Kraft zu trotzigem Kampf. Und das Beethovenorchester ist ein Kraftpaket! Man spürt, dass ihm Brahms’ dichte musikalische Sprache und strukturelle Vielfalt (Prinzip der entwickelnden Variation) entgegenkommt.

Aus einem Brief des Komponisten an Hans v. Bülow lässt sich ein möglicher Zusammenhang zwischen seiner Ferienlektüre 1884/85 und den emotionalen Inhalten der 4. Sinfonie erschließen. Brahms las die Neuübersetzung der Tragödien des Sophokles, ihm gewidmet von seinem Freund Gustav Wendt. Beziehungsreich bezeichnet er in seinem Brief die Sätze der Sinfonie als Entr’acts bzw. „Zwischenspiele zur Tragödie des allgemein menschlichen Lebens, wie es sich seit Menschengedenken abspielt“ – denken wir an Antigone, Ödipus, Elektra…

Alles beginnt im 1. Satz mit einer Kette von Terzen. Aus diesem Kern entwickeln sich die weiteren Themen und Motive, die sich in ihrem emotionalen Charakter deutlich voneinander unterscheiden. Neben elegischen gibt es trotzig-triumphierende und geheimnisvolle Passagen, die bedrohlich klingen. Vielleicht ist es dieser 1. Satz, bei dem wir Brahms am tiefsten in die Seele blicken.

Der 2. Satz beginnt mit einem ruhigen Bläserthema, von den Streichern pizzicato begleitet. Er steht in E-Dur, der Tonart, mit der sich Poesie und liebevolle Herzenswärme so gut ausdrücken lassen. Nach anfänglichem Gefühl ruhiger Besonnenheit tragen die Celli eine sehnsuchtsvolle Kantilene vor, dann meint man, in einem schönen Traum zu versinken, bis sich der Satz nach und nach aufbäumt zu heroischem Forte mit scharfen Punktierungen und Triolen, schließlich nach choralartig flehenden Klängen verhalten endet.

Was für ein C-Dur-Feuerwerk entfesselt Peter Schneider im 3. Satz! Pralle, rauschende Freude, man mag deren Übermut garnicht glauben! Mit Pauken und Trompeten, aber eben auch unter Verwendung von Piccoloflöte, Triangel und C-Klarinette (so singulär in Brahms sinfonischem Werk) rauscht unter Klingeln und Tanzen, stürmisch, kaum zu einem Stopp für romantischen Hörnerklang bereit – ja was eigentlich, wer? - vorüber. Brahms soll zum Dirigenten Fritz Steinbach einmal gesagt haben, das sei „der Zug Alexander des Großen nach Indien“.

Im 4. Satz haben wir die Energie schon in der Satzbezeichnung (Allegro energico e passionato)! Diese emotionale Ebene der Sinfonie wird natürlicherweise zuerst wahrgenommen. Erst beim Hinsehen wird die formale Besonderheit dieses Satzes bewusst: Er hat die barocke Form der Passacaglia. Das aus den 8 Tönen e-fis-g-a-ais-d-h-e bestehende Thema, (modifiziert) aus dem Schlusschor der Bachkantate „Nach dir Herr, verlanget mich“ (BWV 150) entlehnt, kehrt in 30 Variationen wieder. Zuerst erscheint es in den Bläsern, dann wandert es in die Unterstimmen und dient so den höheren Stimmen als Fundament, über dem sie ihre Variationen entwickeln. Unmerklich gleitet eine Variation in die andere; mal in wiegenden Achtelgirlanden, mal in scharfen Punktierungen, mal schemenhaft-verschleiert. Am Ende (Coda) lässt Brahms nicht nur die Terzen aus dem 1. Satz, sondern einen Titan aufmarschieren und sich den Weg nach oben bahnen - mit vollem Krafteinsatz. Dieser Ausklang hat etwas Erhabenes, aber auch Unerbittliches, es ist kein Durchbruch zum Sieg wie bei Beethoven, es ist ein trotziges, vielleicht gar gewaltsames Hindurch!

„Eben aus der Probe zurück. No. 4 riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z“, notierte Hans von Bülow nach einer Probe.

Genau so war sie in Bonn zu hören. Den langen Applaus an diesem Abend nahm Peter Schneider am liebsten nicht vor, sondern im Orchester stehend entgegen.