Peter Schneider steht für Richard Wagner am Pult, trifft und vergegenwärtigt dessen Gefühle. Vielleicht ist das die einzig wirkliche Erklärung dafür, dass es heuer seine 20. Saison in Bayreuth ist. Niemand hat länger am Hügel dirigiert als er: „Holländer“, „Ring“, „Lohengrin“ und, jetzt im 5. Jahr, „Tristan und Isolde“. Musikalisch gibt es keinen besseren „Tristan“, szenisch reicht die Wirkung beim Publikum von Ablehnung über Ignoranz bis zur Gewöhnung.

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich in diesem Jahr las, die Aufführung überzeuge gerade durch ihre szenische Ruhe. Die ist allenfalls kein Hinderungsgrund für die freie Entfaltung der musikalischen Überzeugungskräfte.

Rückblickend auf 5 Aufführungen in 3 Tristan-Jahren hat Peter Schneiders Interpretation wieder an Ausdruckstiefe und Dichte gewonnen. Die ersten Takte der Einleitung fließen aus einer ganz großen Ruhe, aber wenn die Celli in die Sexte gehen, bäumt sich die Sehnsucht machtvoll auf, die Wagner so unvergleichlich komponieren konnte, weil er selbst zutiefst von ihr ergriffen war. Diese Sehnsucht ist pure Energie, will die engste Verbindung zweier Menschen erreichen. Der orchestrale Ansturm, vom 63. Takt an mit leidenschaftlichsten Steigerungen, ist auf seinem Höhepunkt wie eine Sturzflut, die zunächst zu verebben scheint. Doch die Klang-Wellen der Emotion und Leidenschaft werden erst im finalen Liebestod Ruhe finden.

Der 1. Akt lädt sich, angefangen von Isoldes Reaktion auf das Spottlied des Seemanns, sehr schnell mit immer mehr Spannung auf. Ausbrüche wie ihr „Nun leb wohl, Brangäne! Grüß mir die Welt…“ mit den sich aufbäumenden 16tel-Streicherfiguren – das schafft kein Orchester so wie in Bayreuth! Wenn Tristan auf Isoldes Geheiß („Herr Tristan trete nah“) die Szene betritt, ist die Atmosphäre erst recht hörbar emotional aufgeladen: unisono-Aufschwung der Bläser (crescendo!) und harte, schwere Akkorde der Streicher. Tristan bewegt sich in dem unheilschweren Raum mit höchster Vorsicht, sucht Schutz hinter Sesseln, bewegt sich entlang der Wand, immer einen Fluchtweg suchend. Legt Isolde ihm deshalb die Stühle quer in den Weg? Ihr einziges Ziel ist, dem Geliebten EIN Gefühl zu entlocken und es ist weniger szenisch, sondern musikalisch spannend, welch unterschiedliche Anläufe sie dazu macht! Dramatik und Spannung nehmen erneut zu. Wenn sich die Wirkung des Trankes entfaltet, scheint die Zeit in drei-, vierfachem Tempo zu Ende zu rasen (real bleiben ab hier auch nur 4 min. 30‘ bis zum C-Dur-Fanfarenschluss). Ihre Blicke versinken ineinander, doch Brangäne und Kurwenal treten dazwischen und verhindern, dass sie ihre befreiten Gefühle wenigstens kurz auskosten können. Kurz blitzt das Unheil auf: „o truggeweihtes Glücke“. Szenisch erstarrt alles, musikalisch werden beide auseinander gerissen durch den Lärm der Welt. Aufatmen kann danach niemand.

Zu Beginn des 2. Aktes erschrecke ich immer neu über die von Marke geradezu domestizierte Isolde (und Brangäne). Keine durfte bleiben, wie sie war. Doch sie sind nur äußerlich verändert. Innen toben die Gefühle. Über dem Ringen mit Brangäne, die Leuchten löschen zu dürfen, erkennt Isolde Macht und Gewalt der Liebe – selige Einsicht, die die Klang-Atmosphäre für kurze Zeit völlig verändert. Das Orchester rast, wenn die Leuchten verlöschen, dann malt es (unruhige Basslinie!) die sich mehr und mehr steigernde Erwartung, die der Maestro zu einer überwältigenden fff-Welle anschwellen und nach kurzem Stau niederbrechen lässt. Wenig später beginnt das wohl schönste Liebesduett der Musikliteratur. Es ist kein Wunder, wenn man dabei Herzklopfen bekommt. Es ist ja komponiert, bevor sich die Worte formen „O sink hernieder, Nacht der Liebe“. Man wird lange suchen müssen, um es so zu hören wie an diesem Abend – zumal unter den schwierigen Bedingungen einer nahezu finsteren Szene, in der die Protagonisten in den Hintergrund verbannt sind! Irene Theorin und Robert Dean Smith kommunizieren in unglaublicher Dichte und Harmonie, der Ausdruck der Stimmen bekommt allen Raum – bei sparsamer Aktion. Die Stimmen fließen wie Wellen ineinander, heben sich miteinander, scheinen sich ineinander aufzulösen. Iréne Theorins Stimme hat sich bestens entwickelt, ist kraftvoll-breit, aber runder geworden, mit noch schöneren Piani, ohne Schärfe in den Höhen. Robert Dean Smith harmoniert dazu im Timbre und mit lyrisch-inniger Klangschönheit. Beider Durchhaltekraft ist phänomenal, es mag mit der Tiefe zu tun haben, die beide inzwischen in ihren Rollen erreicht haben. Der Wächterin samtene, aus dem Orchestergraben heraus weit tragende Stimme wird umsponnen von einem traumhaft schönen Violinthema. Das ist der Moment der Intimität, der größten Nähe der Protagonisten, aufgehoben und geschützt von Brangäne (Michelle Breedt) – und ich wünsche mir keine andere als sie an dieser Stelle! „So stürben wir, um ungetrennt…“ – da sind Tristan und Isolde eins, emotional im Gleichklang und das ist purer Wohlklang (zur Seligkeit des Publikums), eins darin, der Liebe nur zu leben und den Liebestod, die ew’ge süße Nacht (H-Dur, jedoch bald in d-moll übergehend) zu erreichen. Noch einmal schlagen in allen Orchesterstimmen die Wellen hoch (selbst die Noten in der Partitur bilden Wellen ab), bis Marke tonal schmerzhaft einbricht. Kwangchul Youn hat eine königliche Stimme, gestaltet den Monolog aber noch zu stark vom Kopf her. Er überträgt stimmlich eher gebremste Wut, kaum Trauer und Verzweiflung. Vermutlich mit bedingt durch einen ärztlichen Noteinsatz im Publikum konnte er am Ende ( „Den unerforschlich tief geheimnisvollen Grund…“) die Spannung nicht halten. Nicht nur für Sänger und Dirigent ist der 2. Akt physisch und psychisch nicht zu unterschätzen – das gilt auch für das Publikum. Die leise abschließende Schlüsselstelle (und hier Sternstunde!) beginnt mit Tristans Frage, ob Isolde ihm folgen wolle. Zauber des As-Dur! Hier bewirkt es eine Intimität, die einzigartig ist und auch szenisch anrührt.

Dem As-Dur folgt zu Beginn des 3. Aktes die Mollparallele. F-moll, die finsterste aller Molltonarten, ist Ausdruck einer kaum auszuhaltenden Einsamkeit und Entbehrung. Ohne Isolde kann Tristan nicht leben und nicht sterben. Wenn sich dann Robert Dean Smith erstmals von seinem Lager erhebt, erlebt das Publikum ein Wunder an Gestaltungskraft: Innigkeit (geradezu mystisch das „göttlich ew‘ges Urvergessen“), Expressivität und Kraft für visionäre („Isolde, wie sie winkt“) und glückshysterische Ausbrüche, die nicht selten bis a‘ oder c‘ reichen. An seiner Seite der stimmgewaltige Kurwenal von Jukka Rasilainen, szenisch schrullig, doch mit großem Herzen. Mit höchster physisch-geistiger Anspannung singt er, bis zuletzt wortverständlich, jeden Ton. Unendliche Melodie – unendlicher Atem. Das Auf und Ab der Emotionen einschließlich des ständigen Wechsels von 3/4, 4/4, 5/4-Takt überträgt sich, bewirkt Erschöpfung. Dann der Liebestod, die Seele wird weit, alle Anstrengung ist vergessen, noch einmal eine große Welle der Emotion, die sich endlich in unbeschreibbare Weiten ruhig verströmt. So klingt es, wenn zwei in der Welt untergehen dürfen, in der Liebe gelebt werden darf.

Finaler Jubelsturm für Peter Schneider und die Protagonisten. Auffallend auch die ausgezeichneten Stimmen in den kleinen Partien: Ralf Lukas als Melot, Arnold Bezuyen als Hirt, Martin Snell als Steuermann und Clemens Bieber als junger Seemann.

Denen, die diese Musik mit offenem Herzen hören, wird danach die Macht der eigenen Gefühle um vieles mehr bewusst sein.