Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. (Hebr 13,2) Gastfrei zu sein, ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Theoretisch nach allgemeiner Ansicht wohl schon, praktisch aber in der Regel mit mehr oder weniger großen Einschränkungen. Im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen, die vor anderthalb Jahren nach Deutschland strömten, unterhielten sich einige, wie weit sie für wen und was ihre Haustür öffnen würden. Fast alle waren sich einig, Flüchtlinge nicht in ihr Haus zu lassen. Manche aber konnten sich vorstellen, ihnen behilflich zu sein, sich in Deutschland zurecht zu finden und bei der Integration zu helfen. Ein paar andere meinten, auch Deutschen, die ihnen fremd sind, würden sie nicht ohne weiteres die Tür öffnen, selbst wenn sie Mitleid erregten. Es gebe ja jetzt eine Menge Betrüger und Räuber. Da sei man unter Umständen seines Lebens nicht mehr sicher. Und eine Frau sagte, zu ihr in die Wohnung kämen nur die rein, die sie eingeladen habe oder die sie sehr gut kenne. Das Gespräch macht deutlich, wie vielfältig überhaupt unter uns die Ansichten darüber sein können, wie man sich in welchen Situationen anderen gegenüber verhalten will.

Doch was bedeutet dieses Wort gastfrei eigentlich? Ein Gast ist immer ein Fremder, unter heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen in dem Sinn, dass er kein Angehöriger von mir, meiner Familie und meinem Freundeskreis ist. Gastfrei ist nun der, der zu solchen Fremden freigebig ist, so die Herkunft und Bedeutung dieses Wortes, die der im Hebräerbrief schon ganz nahe kommt. Denn dort heißt es im wörtlichen Sinn, die „Liebe zum Fremden“ nicht zu vergessen. Und schon damals waren solche, die Zuwendung und Hilfe brauchten, oftmals Fremde. Das ist bis heute so. Fremde kamen schon damals und kommen auch heute oft noch zu uns, wenn sie unsere Zuwendung und unsere Hilfe brauchen. Wir sollen, so mahnt dieser Vers, nicht vergessen, ihnen aus Liebe heraus in ihrer Not und Bedürftigkeit zu helfen, ihnen also das zu geben, was sie zum Leben benötigen.

Viele können dieses Wort des Hebräerbriefes durchaus auch für sich unterschreiben - und zwar als moralischen Appell zu mehr Mitmenschlichkeit im Sinne der Menschenrechte und Menschenwürde - und andere zu solchem Handeln ermutigen. Zumal in heutiger Zeit ist dies ohnehin sehr von Nöten - zum Wohl aller -, damit es unter uns friedlicher und gerechter zugeht.
Doch das spezifisch Christliche dieses Wortes ist dabei kaum erfasst. Es wird erst deutlich, wenn wir beachten, für wen dieses ermahnende Wort geschrieben wurde. Die „Hebräer“, an die sich der Brief richtete, waren Christen, die eine Zeit der Verfolgung und Misshandlung wahrscheinlich unter dem römischen Kaiser Domitian hinter sich hatten. Doch die Gefahr war nicht vorbei. Sie hatten Furcht vor weiterem Leiden. Die Folge: Sie wurden glaubensmüde und waren dabei, ihre Zuversicht und Hoffnung auf Gott wegzuwerfen.
Nun, wir Christen heute in Deutschland befinden uns Gott sei Dank nicht in einer solchen Situation. Doch haben andere Gründe, auf die wir hier in diesem Zusammenhang nicht einzugehen brauchen, auch dazu geführt, dass viele Christen in unserer Kirche im Glauben müde geworden sind. Und manche erwarten von Gott nicht mehr viel. Wie auch immer, eines bleibt gewiss – darauf weist der Hebräerbrief hin -: Christus, der ewige Sohn Gottes (Hebr 13,8: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit), Gott gleich, eingesetzt über das Universum und alle Mächte, der die Gläubigen in das Heil und die Herrlichkeit führt, der nennt uns seine Brüder und Schwestern (Hebr 2,11). In ihm sind alle Christen untereinander zusammengeschlossen. Und weil das so ist, kann sich keiner isoliert sehen. Er ist immer in Gemeinschaft zusammengeschlossen mit den anderen Christen, die mit ihm als seine Schwestern und Brüder zur Gemeinde gehören. Wer es von dieser Seite aus betrachtet, kann eigentlich nicht so kontaktlos leben, so eigenbrötlerisch und in sich verschlossen und sich so sehr mit sich selbst beschäftigen. Der kann sich nicht zurückziehen, wenn unsere Gemeinschaft, durch was oder wen auch immer, in Gefahr ist. Sondern er sucht in Zeiten der Gefahren und der Not seine Schwestern und Brüder und schließt sich mit ihnen zusammen – auch gemeindeübergreifend und konfessionsübergreifend. Auch die christliche Kirchturmpolitik und der Gemeindeegoismus, den wir heute oft angesichts der schwierigen Verhältnisse unserer Kirchen beobachten, lassen sich so überwinden.
Und wie geht das alles? Nur so, indem wir gegenseitig unsere Häuser öffnen und uns um die kümmern, die in ihrer Bedürftigkeit und Not bei uns anklopfen: Verfolgte, Verzweifelte, Not Leidende, Ratlose, Gemeinden, denen es schlechter geht als der unsrigen usw., und wir ihnen frei, also ungezwungen und selbstlos das geben, was sie bedürfen.

Wer so handelt, so meint es der Verfasser des Hebräerbriefes, nimmt vielleicht, ohne es zu wissen, einen Engel auf. Engelsbegegnungen aus der Bibel kennen wir viele, z.B. bei Abraham und Sara in Mamre (Gen 18), bei Lot in Sodom (Gen 19), der Maria zur Ankündigung von Jesu Geburt, dem Joseph mit dem Rat zur Flucht nach Ägypten, Jesus, der im Garten Gethsemane Todesangst hatte. Gott schickt uns oft Hilfe durch Engel, seine Boten. Und sie können auch in Menschen aus Fleisch und Blut kommen, die oft von ihrer Mission als Engel nichts ahnen und nichts wissen. Es kann also auch der ein Engel sein, der als bedürftiger Gast an unsere Haustür klopft. Er kann aber auch uns etwas geben, was uns gerade jetzt nötig ist oder gut tut, z.B. kann er unseren Denkhorizont erweitern und so Mut machen, kann trösten, kann Wege zeigen, die uns bisher nicht in den Sinn gekommen sind.
Engel sollen uns Mut machen und helfen, auf Gottes schützende und bewahrende Kraft zu trauen. Sie sind nicht selbst Gott. Sie verweisen aber auf ihn. Er schickt sie uns. Sie zeigen uns den Weg zu Gottes Raum, in dem wir Schutz, Trost, Hoffnung und Ermutigung finden.
Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Engel bringen in das Leben gastfreier Menschen oftmals Segensreiches mit hinein und helfen, mit ihren Sorgen und Ängsten besser fertig zu werden – und das nicht nur im persönlichen Bereich, sondern auch in unseren Gemeinden und Kirchen. Doch in schwierigen, sorgenvollen Situationen halten uns nicht die Engel zusammen, sondern Jesus Christus, unser Bruder, der über allen Engeln steht. Wir können es vom Hebräerbrief her so sagen: Engel helfen, auf heilsamen Wegen durchs Leben zu gehen; Jesus Christus hält uns zusammen, motiviert und führt zu einem Glauben, durch den wir mitten in einer Welt, in der wir uns sorgen, ängstigen, schwach und mutlos werden, Gewissheit, Zuversicht und neue Kraft bekommen, indem er uns zum Heil und die Herrlichkeit Gottes führt.
Die Boten Gottes, die Engel helfen dabei in der Weise, dass sie behilflich sind, auf heilsamen Wegen durchs Leben zu gehen, die zu ihm führen. Sie kommen oft als Gäste zu uns. Daher: Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.