Im Religionsunterricht wird gerade das 4. Gebot behandelt. Nach der Stunde kommt Frieda auf die Lehrerin zu und fragt sie: „Stimmt es wirklich, dass Gott alles hört und sieht?“ Die Lehrerin wundert sich und fragt zurück: „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Frieda: „Wenn ich mit meinen Eltern mal streite, dann sagen sie: Du weißt doch, der liebe Gott sieht und hört alles. Also benimm dich!“ „Und was machst du dann?“, fragt die Lehrerin. „Na, ich gebe klein bei, finde es aber ungerecht, wenn Gott wirklich so ist, mich kontrolliert und mich zwingen will.“ Lange noch unterhielten sich die beiden über diese ganze Problematik, unter der Frieda offensichtlich oft litt.

„Der liebe Gott sieht alles und hört alles.“ Wie oft wird das nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen mit einem erhobenen Zeigefinger vorgehalten, um sie zu disziplinieren.

Der Spruch für den Monat Juni lautet ähnlich: Du allein kennst das Herz der Menschenkinder (1 Kön 8,39). Salomo, der Sohn und Thronnachfolger von König David, hatte nach Gottes Willen in Jerusalem einen herrlichen Tempel gebaut. Feierlich wurde er eingeweiht. Salomo sprach ein langes Tempelweihegebet zu Gott. In ihm bat er unter anderem Gott darum, dass, wer auch immer und warum auch immer er Zuflucht im Tempel sucht, Gott sich ihm gnädig zuwenden möge - welche Not und welches Leid auch immer ihn drückt, was auch immer er getan hat, auch gegen Gottes Wille. Salomo redete von Gottes Hilfe, von seiner Gnade, von seiner Vergebung. Nichts ist Gott zu gering oder unbedeutend, dass man nicht zu ihm kommen könnte. Er kennt ohnehin die Menschen besser als sie sich selbst, denn, so bekennt er: Du allein kennst das Herz der Menschenkinder. Seine Worte sind getragen von der Gewissheit: Gott weiß, wie es um dich steht, was dich plagt, was dir zu schaffen macht, und besonders, was dich in deinem Denken so beschäftigt und in deinem Gewissen umtreibt. Gott weiß es sogar besser als du selbst. Und hier, im Tempel, da kannst du Gott begegnen und ihm alles sagen. Und so, wie er sich schon deinen Vorfahren als ihr treuer Gott erwiesen hat, so bleibt er auch dir treu, hilft dir und ist dir gnädig. Und der Tempel ist dann auch der Ort, an dem du ihn wegen seiner Treue, Gnade und Hilfe, die du erfahren hast, auch verehren kannst als deinen Gott.

„Der liebe Gott sieht alles und hört alles.“ Das ist nach dem biblischen Zeugnis wohl wahr, aber nicht in der Absicht, uns zu kontrollieren, zu überwachen und uns vielleicht sogar zu ängstigen und zu drohen. Sondern er will wissen, wie es um uns steht und was in uns vorgeht, was wir denken, fühlen und uns im Gewissen beschäftigt. Seine Absicht ist, uns zu helfen, unsere Not zu lindern, uns zu trösten, unsere Gewissen zu erleichtern und uns zu vergeben und uns den rechten Weg zu ihm und damit zu einem sinnvollen, glücklichen Leben zu weisen. Gottes Erkennen ist ein liebendes Erkennen. Deshalb können wir die Masken, mit denen wir unser wahres Gesicht und unser Inneres verbergen, getrost ablegen und unser wahres Gesicht zeigen.

steinrelief georgenkirche eisenachIm Altarraum der Eisenacher Georgenkirche steht das hier abgebildete Steinrelief, das bis 1952 im Reinhardsbrunner Klosterportal enthalten war. Darauf sieht man die Kreuzigungsszene. Neben der Mutter Jesu steht unter dem Kreuz der Jünger Johannes, dazu zwei der Soldaten, die Jesus gekreuzigt hatten. Einer von ihnen hält sich mit der einen Hand am Kreuz fest und mit der anderen Hand nimmt er die Maske ab, die er vor seinem Gesicht trägt.

Diese Maske symbolisiert all das, was wir Menschen tun, um nicht unser wahres Gesicht zeigen zu müssen gegenüber Gott und den Menschen, nämlich unsere Selbstge­rechtigkeit, unseren Stolz und Egoismus, mit denen wir verletzen und schuldig werden.

Der Soldat, der das Kreuz berührt, empfängt von dort eine Kraft, die ihn ermutigt und es ihm ermöglicht, seine Maske abzunehmen. Er kann nun zu seiner Schuld stehen. Er zeigt dem Betrachter sein neues Gesicht. Denn ihm sind die Augen aufgegangen über Christus und über sich selbst.

Ihm sind die Augen aufgegangen über Christus und über sich selbst. Dort am Kreuz hatte er erkannt, dass mit diesem Gekreuzigten eine neue Zeit anbricht, eine Zeit des Heils, wie Jesus sie verkündigt hatte. Er erkannte, so wie Jesus selbst im Tod nicht von Gott verlassen wurde, so verlässt er keinen, wie auch immer es in seinem Herzen aussieht. In Jesus erkannte er Gottes Herz, das voller Liebe zu uns Menschen ist. Warum sollte er da sein Inneres noch hinter einer Maske verbergen?

Gott kennt das Herz eines jeden Menschen. Und wer zu sich selbst steht und sein Herz ihm öffnet – was auch immer in ihm sich vorfindet, wird ihn in all seiner Liebe erfahren. Dessen ist sich auch Salomo gewiss. Und im Glauben an Jesus Christus kann das jeder erfahren. Dass Gott unser Herz durch und durch kennt, muss niemanden beunruhigen. Sondern er darf gewiss sein, dass Gott sich seiner annimmt und ihm im Glauben an Christus eine neue Zukunft, das ewige Leben in seinem unzerstörbaren Reich eröffnet.