Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apg 5,29) Mit diesem Satz begründete der Apostel Petrus seinen Ungehorsam gegenüber Mitgliedern des Hohen Rates in Jerusalem.
Doch was war da passiert? Die Apostel verkündeten dem Volk in Jerusalem die Auferstehung Jesu und seine frohe Botschaft, tauften viele und heilten Kranke. Mitglieder des Hohen Rates – er wachte als maßgebliche religiöse Instanz über die Reinheit der jüdischen Lehre – wurden auf sie eifersüchtig, weil die Apostel außerordentlich viel Zulauf aus dem Volk hatten, und ließen sie ins Gefängnis werfen. Nachts öffnete ein Engel Gottes die Gefängnistüren, führte sie hinaus und trug ihnen auf, im Tempel alle Worte der Heilsbotschaft zu predigen. Als der Hohe Rat davon erfuhr, ließ er sie von der Tempelpolizei vorführen und warf ihnen vor, sich über das von ihnen verhängte Predigtverbot (s. 4,18) hinweggesetzt zu haben. Petrus und die Apostel begannen ihre Begründung, sich über das Verbot hinweggesetzt zu haben, mit den Worten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Das war mutig. Denn Mitglieder des Hohen Rates waren so wütend, dass sie die Apostel töten wollten. Doch der den Christen wohlgesonnene Schriftgelehrte Gamaliel riet zur Besonnenheit und bat, sie gehen zu lassen. So kam es dann auch, jedoch nicht, ohne dass sie gegeißelt wurden und ihnen das Predigen erneut verboten wurde.

Durch Gottesgehorsam begrenzter Menschengehorsam. Gehorsam ist dabei anders zu verstehen als heute gebräuchlich, nicht so zugespitzt und verschärft als ein unbedingter Gehorsam, dem man einem anderen, einem Höheren schuldig ist oder als ein Sich-Fügen aus Furcht vor Strafe. Der ursprüngliche Sinn des Wortes wird mit „willig folgen“, also ohne ein „Müssen“ besser getroffen.

Willig folgen. Wer tut das? Ich denke an Menschen, die sich zugetan sind, einander vertrauen und sich lieben. Sie sind füreinander da. Im Vertrauen zueinander sehen sie nicht auf das Eigene, sondern haben das Glück des anderen im Auge. Solche Liebe kann stark sein, so stark wie der Tod, wie wir es auch im Hohelied Salomos lesen (Hl 8,6).

Die Bibel berichtet von unzähligen Menschen, die Gott mit einer Liebe erfahren haben, die noch stärker ist als der Tod. Er sandte schließlich Jesus, seinen Sohn, in unsere Welt, damit die Menschen bei ihm und mit ihm seine Liebe erfahren können. Er ist, so können wir es sagen, die personifizierte Liebe Gottes, die alles Gottwidrige überwindet, Sünde und Tod. Überall verkündete Jesus diese frohe Botschaft von dieser Liebe Gottes. Und in seinen Wundern und Taten konnten die, die ihm und seiner Botschaft vertrauten, zeichenhaft erfahren, wie stark diese göttliche Liebe zu uns Menschen ist und wie weit sie geht. Diesen Gott hatten die Apostel durch Jesus erfahren, nämlich wie er zur Quelle ihres Lebens wurde, zum lebendigen Wasser. Es wäscht Sünden ab - durch das Vergeben. Es stärkt, erfrischt, macht lebendig in den Wüsten und Niederungen des Lebens. Es ist das lebendige Wasser, über das Jesus in Joh 4,10-15 spricht, und sich dabei selbst meint. Er selbst ist es, der als Gabe Gottes Leben im umfassenden Sinn bringt durch seinen heilvollen Tod. Dieses ewige Leben umgreift das ganze menschliche Dasein, verleiht ihm über den Tod hinaus eine neue Richtung und einen neuen Sinn und gewährt so Anteil an Gottes Lebenswirklichkeit, einzig und allein aus lauter Liebe Gottes.
Wer Jesus Christus sein Herz öffnet, ihm und seiner Botschaft vertraut, der wird sich über sein nun neugewordenes Leben freuen, über einen neuen Sinn des Lebens, über Neuanfänge, die möglich sind, über die Gewissheit der Geborgenheit in Gottes Hand selbst über den Tod hinaus, letztlich über die Vollendung des Lebens in Gottes ewigem Reich. Wer will ihm da nicht willig folgen? Es gibt doch nichts Kostbareres als dieses Geschenk Gottes.
Die Apostel taten es und bekamen von Jesus vor seiner Rückkehr zum himmlischen Vater den Auftrag, seine frohe Botschaft weiter zu verkündigen in der ganzen Welt, damit überall die Menschen Gott in seiner unermesslichen Liebe kennenlernen, zum Glauben an ihn kommen und diese Liebe, die das ganze Dasein verändert, selbst erfahren können. Seither wird das Evangelium von Jesus Christus in die Welt getragen. Allerding kommt es dabei oft zum Widerstand in der Welt. Denn das Evangelium von Jesus Christus wird in der Welt als anstößig, empfunden. Das Wort von der Gottesliebe und der Nächstenliebe, die es in sie hineinträgt, passt denen nicht, die sich selbst und ihre eigenen Interessen und Ideologien vorn dran stellen, wie Macht, Ehre und Besitz und andere für ihre Zwecke gewinnen oder gar zwingen wollen. Für den gläubigen Christen stellt sich dann sofort die Frage: Wem soll ich nun eigentlich willig folgen, Gott oder den Menschen, die es anders wollen als Gott, der doch mein Leben ist?

Durch Gottesgehorsam begrenzter Menschengehorsam.
Am 18. Mai 1521 stand Martin Luther in Worms vor dieser Frage. Luther war vor dem Kaiser als Ketzer der Kirche angeklagt. Er sollte seine Lehre widerrufen. Luther wusste, es ging je nach seiner Antwort um Fallenlassen der Anklage oder schlimmstenfalls um sein Leben. Dem Kaiser und den Ständen des Deutschen Reiches antwortete er mit den berühmt gewordenen Worten: „Wenn ich nicht überwunden werde durch die Zeugnisse der Heiligen Schrift oder durch evidente Vernunftgründe (denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil feststeht, dass sie sich oft geirrt und sich selbst widersprochen haben), bin ich durch die von mir angezogenen Schriftstellen besiegt, und das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir. Amen.“ (WA 7, 838) Wir wissen alle, wie es danach für Luther weiterging.

Es gibt keinen Lebensbereich, in dem sich für Christen die Frage nicht stellt, wem er nun folgen und damit gehorsam sein soll: Gott, Jesus Christus oder Menschen, die etwas fordern oder einfordern, was dem Willen Gottes widerspricht.
Da ist zum Beispiel eine Oma, die ihrer Enkeltochter Geschichten aus der Bibel erzählt und dazu ihre eigene Glaubensgeschichte. Als die Mutter des Kindes davon erfährt, verbietet sie der Oma, das weiterhin zu tun. Die Oma hält sich nicht daran. Die Mutter erfährt davon und droht damit, die Oma vor die Tür zu setzen. Die ist nun totunglücklich darüber und weiß nicht, was sie nun tun soll. Erst nach einem Gespräch mit dem Pfarrer wird sie innerlich so stark, den totalen Bruch mit ihrer Schwiegertochter zu riskieren. Geholfen hat ihr dabei auch das Wort aus der Apostelgeschichte: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Zwei befreundete Arbeitskollegen sitzen in einer Kneipe bei einem Gläschen Bier zusammen. Sie haben Ärger. Ihr Chef will, dass sie eine neue Kollegin mobben und sie vor die Wand laufen lassen, damit sie wieder geht. Denn sie sei ihm nicht gefügig und auch nicht fleißig genug. Der Chef sagte ihnen, er werde das honorieren, indem er ihnen bessere Arbeitsplätze in Aussicht stellte. Die zwei Männer sind sich uneinig darüber und geraten in Streit. Für den einen ist das verlockend und eigentlich nichts dabei, jemanden zu mobben. Dem anderen gefällt das gar nicht, will nicht nur nicht mitmachen, sondern der Kollegin helfen und sie auch vor dem Mobbing warnen. „Ich bin Christ“, so sagt er. „Da musst du auch mal Rückgrat haben und dich dagegen stellen, wenn es anderen ungerechterweise an den Kragen gehen soll. Ich kann das sonst vor meinem Gewissen nicht verantworten.“
Im politisch-ethischen Bereich stellt sich für viele Christen die Frage besonders häufig, wem sie nun mehr gehorchen sollten, dem Willen Gottes folgen oder dem der Machthaber, wenn sie etwas fordern, das dem Willen Gottes entgegensteht. Die Frage des Gehorsams und der Gehorsamsverweigerung ist zu Luthers Zeiten so bedeutend geworden, dass er sich sehr ausgiebig und ausführlich in seiner sogenannten Zwei-Regimenten-Lehre damit beschäftigte. (Sie wird meist nicht ganz korrekt, weil leicht missverständlich, als Zwei-Reiche-Lehre bezeichnet.) Diese theologisch-ethischen Erkenntnisse haben vielen Christen zum Beispiel in der ehemaligen DDR geholfen, ihrem Gott treu zu bleiben und nicht dem Staat mit seiner atheistischen Ideologie und seinen Verführungen zu erliegen und so vollends unter ihre Knute zu geraten. Sie haben ihnen geholfen, der Nötigung zu jedem Unrecht, und sei es auch nur zur schweigenden Hinnahme von Unrecht, zu widersprechen und den Opfern beizustehen. Freilich brachte das auch vielen nicht nur Nachteile ein, sondern sogar Bespitzelung, Verfolgung, Zersetzung des familiären Umfeldes und von Freundschaften und Gefängnis. Und auch in Demokratien wie der unsrigen bleibt es für Christen nicht aus, sich auch zu entscheiden, wem sie in einer bestimmten Sache folgen wollen. Denn auch wenn es nach Gottes Willen ein politisches Ordnungs- und Gewaltmonopol geben muss (Gott handelt auch durchs weltliche Regiment), so heißt dies noch lange nicht, dass dem Staat dann alles erlaubt ist. Wo er  in Bezug auf den Nächsten Gottes Willen verletzt, kann der Christ dabei nicht folgen und mitmachen, sondern muss wiedersprechen, protestieren und sich für den Nächsten einsetzen, friedlich, also prinzipiell nicht mit Gewaltaktionen gegen den Staat und dessen Organe. Gottesgehorsam begrenzt dann Menschengehorsam. Oder mit Worten des Apostels Petrus: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.