Den meisten Christen ist das Vaterunser so geläufig, dass sie es auswendig beten können. Es ist das Gebet, das Jesus Christus uns gelehrt hat und daher in jedem Gottesdienst gebetet wird. Mit dem Vaterunser hat uns Jesus eine Tür geöffnet. Die Tür zum Vater. Er will, dass wir durch diese Türe gehen, dass wir sie benutzen, Tag um Tag, indem wir mit ihm reden, d.h. zu ihm beten. Es ist die Tür zum Leben, die Tür zum Heil. Dass sie uns offen steht, verdanken wir Jesus. Ihm allein. Sie steht uns immer offen, auch wenn wir vor lauter Kummer, Leid und Not an Gott, unserem Vater, irre werden und von ihm kaum noch etwas erwarten. Mit den Bitten im Vaterunser an Gott richtet sich der Betende voller Hoffnung an den, von dem er vielleicht nur noch als Einzigem Hilfe und Wegweisung erwartet – Hilfe und Wegweisung zum Leben, zum Heil.

Für viele schwer zu verstehen sind die letzten beiden Bitten "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen". Es sind Bitten um Bewahrung vor weiteren Sünden und der Befreiung von ihnen. Sie nehmen ernst, dass wir bedrohte Wesen sind, nicht nur hinsichtlich von Gesundheit, Wohlstand usw. Sondern vor allem, dass wir Zwängen unterliegen, denen wir aus eigener Kraft nicht entkommen, selbst wenn wir es ernsthaft wollen. Das kennen wir aus unserem Leben nur zur Genüge. Es kann ja keiner für sich selbst die Hand ins Feuer legen. Wir sollen daher Gott darum bitten, von Situationen, die uns überfordern könnten, verschont zu bleiben und in solchen Situationen nicht versucht zu werden, d.h., zum Tun des Bösen verleitet zu werden. Positiv gesagt: Wir sollen Gott darum bitten, dass er uns vom Bösen erlöse – hier und jetzt und in Ewigkeit. Darum geht es in dieser Vaterunser-Bitte.

Um eine ähnliche Thematik geht es im Monatsspruch aus Eph 6,18: Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist und wacht dazu mit aller Beharrlichkeit und Flehen für alle Heiligen.

Dem Verfasser des Epheserbriefes geht es jedoch hier vorranging nicht um uns selbst, die wir von Zwängen und bösen Mächten bedrohte Wesen sind. Sondern es geht hier um die Bedrohung aller Heiligen. Nach dem Verständnis des Epheserbriefes heißt das, es geht um die Bedrohung der Kirche als Leib Christi. Als solcher ist sie, deren Haupt Jesus Christus ist, zwar unzerstörbar. Doch auch wenn Christus die finsteren Mächte und das Böse besiegt hat, so sind sie immer noch am Wirken und wollen verhindern, dass der Getaufte schon das ist, was er nach Gottes Willen sein soll: Erlöster, Befreiter, ein neuer Mensch. Deswegen soll der Christ die Waffenrüstung Gottes anlegen, um den Angriffen widerstehen zu können, wie wir in den Versen vor dem Monatsspruch lesen.
Zugleich soll er für seine Kirche beten. Denn die Bedrohung der einzelnen Christen und ihre Verführung durch die finsteren Mächte und das Böse stellen damit auch eine Bedrohung der Kirche dar. Sie wollen verhindern, dass das Evangelium verkündet wird. Denn es kündet von der Befreiung und Erlösung der ganzen Welt von dem Bösen und den finsteren Mächten durch Christus. Die Christen sollen also wachsam sein und Gott mit Gebet und Flehen das Ergehen seiner Kirche vor die Füße legen und um Hilfe bitten. Die Kirche soll nach dem Willen Gottes ihren Dienst zum Heil der Welt nicht nur leisten, sondern darin sogar noch wachsen. Das wollen die finsteren Mächte natürlich verhindern. Das Gebet für die Kirche ist daher die stärkste Wehr gegen Verderben und Zerstörung in der Welt.

Wem die Kirche am Herzen liegt, wird für sie beten. Warum? Schauen wir auf unsere Kirchen. Es geht ihnen nicht gerade gut: schwindende Mitgliederzahlen, abnehmende Gottesdienstangebote, rückläufige Zahlen an Gottesdienstbesuchern, Taufen, Konfirmationen und kirchlichen Bestattungen, schrumpfende Finanzen, zunehmende Überlastung der Mitarbeiter im Verkündigungsdienst durch immer größere Pfarrbereiche, Erschöpfung der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Die Verkündigung des Evangeliums und die Seelsorge leiden darunter. Viele treue Kirchenmitglieder klagen darüber. Sie vermissen zunehmend den Trost z.B. am Krankenbett und in Leid und Notlagen sowie aufmunternde und aufbauende Worte, die den Glauben stärken. Sie vermissen zunehmend die Gemeinschaft bei Gottesdiensten und beim Abendmahl. Sie wünschen sich von den Kirchenleitungen Initiativen zur Besserung – wie auch immer sie aussehen könnten – und erfahren meist doch nur weiter abnehmendes kirchliches Leben. Und dann sind da noch die Missbrauchsfälle und andere Skandale von Vertrauenspersonen in den Kirchen.
Viele Kirchenmitglieder sagen: „Das ist nicht mehr meine Kirche.“ Sie sind enttäuscht, frustriert und fühlen sich geistlich ausgetrocknet. Und ein Teil von ihnen will dann mit ihr nichts mehr zu tun haben und tritt aus ihr aus.
Nur, hilft das der Kirche? Ein Mann sagte neulich zu mir: „Also, ein Austritt aus der Kirche kommt für mich nicht in Frage. Wie sollte es dann besser werden, wenn alle Unzufriedenen austräten? Da ist es doch besser, sich in der Kirche für eine Änderung, eine Besserung einzusetzen. Ich weiß nur noch nicht genau wie. Doch wenn ich ausgetreten bin, kann ich das nicht mehr.“ Dieser Mensch ist Gott sei Dank nicht der einzige, der so denkt.

Wachsam sein und für die Kirche bei Gott bitten, dass er ihr hilft, ihren Auftrag in der Welt und für die Welt im Kleinen wie im Großen zu erfüllen – gegen alle Widerstände und Widrigkeiten und gegen den Zeitgeist, oder traditionell und treffender gesagt, gegen alle Bedrohungen durch finstere Mächte und das Böse.
Vielen Fürbittengebeten unserer Gottesdienste liegt, soweit es die Liturgiewissenschaft zurückverfolgen kann, ein gewisses Aufbauschema zugrunde, das der Reihenfolge der Vaterunserbitten entspricht. Sie beginnen mit der Fürbitte um das Kommen des Reiches Gottes, für die Ausbreitung des Evangeliums und den Dienst der Kirche. Leider fällt diese Bitte in vielen Gottesdiensten gänzlich „unter den Tisch“, wird allenfalls an irgendeiner Stelle kurz eingeflochten. Das ist sehr zu bedauern. Denn die Kirche wird doch nicht durch uns erhalten, sondern durch Jesus Christus, der da spricht: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mt 28,20). Daher: Wem die Kirche am Herzen liegt, wird für sie beten.

Martin Luther sagte dazu folgendes (WA 34 II, 406,3-9: Predigt am 29.10.1531 zu Eph 6,10-17): „Darum sollen wir … Gott anrufen, dass er es (= das Wort Gottes) durch rechte, wackere Prediger und treue Arbeiter im Schwange erhalte. Denn, wo die nicht sind, da folget auch der mörderische Schaden, dass der Teufel einreißet, und seine Lügen, anstatt der Wahrheit (doch auch unter demselben Schein und Namen) auf den Predigtstuhl bringet und alles voll Rotterei machet, damit er die Kirche zertrennet und verderbet, wie wir bisher wohl erfahren haben…“

Wem die Kirche am Herzen liegt, wird der Aufforderung Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist und wacht dazu mit aller Beharrlichkeit und Flehen für alle Heiligen nachkommen und wird für sie beten.