In dieser nun dunklen Jahreszeit gegen Ende des Jahres wird uns Menschen mehr als sonst unsere Sehnsucht nach Licht und nach der Fülle des Lebens bewusst, jedenfalls dann, wenn wir von der Hektik und dem Getriebensein in unserer Zeit etwas Abstand zu gewinnen versuchen. Unsere Gedanken kreisen mehr als sonst um das, was unser Leben ausmacht, was uns beschwert und sogar fesselt und einem Leben in Fülle entgegensteht. Sie nähren die Sehnsucht nach einem seligen, also überaus glücklichen Leben, das über den Tod hinausgeht. Dass die Wunden, die man im Leben bekommt, verbunden und geheilt werden. Dass die Irrungen und Wirrungen im Leben ein Ende finden und man sich geborgen und wie zu Hause weiß. Dass es ein ungetrübtes Leben voller Glückseligkeit wird.
Der Spruch für diesen Monat aus dem Buch des Propheten Ezechiel (Ez 34,16) ist eine solch heilvolle Zusage, gesprochen gut 500 Jahre vor Jesus Christus: Gott spricht: Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wieder zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken. Gott selbst will als guter Hirte (Vers 12) sich seines unglücklichen Volkes annehmen, dem es erbärmlich geht. Denn die Verantwortlichen im Volk – es sind die Politiker, aber auch jeder Einzelne, der seiner Verantwortung für andere nicht gerecht wird – nutzen das Volk wie falsche Hirten aus, behandeln es ungerecht und halten es schonungslos zum eigenen Vorteil nieder und beuten es aus. Er, Gott, wird dem ein Ende bereiten, indem er ihnen die Verfügungsgewalt entziehen und für sein Volk wie ein wahrer Hirte sorgen und es retten wird. Er wird persönlich eingreifen und eine neue, innige Gemeinschaft mit seinem Volk herstellen, so dass es ihm an nichts mehr fehlen wird. Er stärkt die Schwachen. Er verbindet die Verletzten. Er bringt die Verirrten wieder zurück im Gegensatz zu den untreuen, Hirten, die ihre Herde im Stich lassen. Gott nimmt sich der Menschen an und überlässt sie nicht einfach sich selbst und ihrem Schicksal. So kündigt es der Prophet an. Das Wie der Verwirklichung dieser Zusage Gottes ist jedoch nicht so eindeutig, wie es in Ez 34,23-31 erzählt wird. Denn die Einsetzung eines Knechts und Fürsten aus dem Geschlecht Davids durch Gott kann auch symbolisch gemeint sein, was jedoch keinesfalls die Zusage Gottes relativiert. Wie auch immer, in ihm ist jedenfalls Gott selbst am Werk.

Dieses Wort des Propheten Ezechiel ist zu verstehen als ein Trostwort zur Traumabewältigung des jüdischen Volkes nach der Zerschlagung ihres Königreiches und der Deportation von Teilen des Volkes nach Babylon. Das Wort sagt eine heilvolle Zukunft an und wirbt um Vertrauen zu Gott. Es sagt: Menschen können uns enttäuschen oder sogar Schaden zufügen, Gott tut das jedoch nicht. Als der einzig wahrhaft gute Hirte schafft er Verhältnisse, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein Leben in vollständiger Unversehrtheit und in gänzlichem Frieden und Wohlbefinden seine Erfüllung findet. In der gesamten Antike war das Bild eines guten Hirten äußerst bekannt als ein bildlicher Ausdruck für Herrscher, die für sich in Anspruch nahmen, solche heilvollen Verhältnisse zu schaffen.

Dieses Bild mit der Zusage des einzig wahrhaft guten Hirten vermittelt auch der Ps 23, der älter ist als das Prophetenwort. Die meisten kennen den Psalm, der mit den Worten beginnt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser…“ Der Beter weiß sich in der Nähe Gottes fortwährend geschützt und geborgen und vollkommen versorgt. Für die Israeliten der damaligen Zeit bestand darin ihre Rettung, ihr Heil. Die spätere Vorstellung von der Auferstehung der Toten kannten sie noch nicht.

Ich will jetzt nicht weiter das Bild von den falschen Hirten strapazieren, obwohl es gerade auch in unserer heutigen Zeit viele Anklänge dazu gibt bis hin zu unserem eigenen Verhalten. Nur so viel: Ein ehrlicher Blick auf uns selbst lässt Zweifel aufkommen, ob ich, meinetwegen als Politiker, Staats¬diener, als Chef, als Lehrer, als Pfarrer, als Vater oder Mutter, ein wirklich guter Hirte bin. Ist es nicht eher so, dass jeder, der Autorität über andere hat, in der Gefahr steht, seine Macht oder Stellung selbstsüchtig zu gebrauchen und eher an den eigenen Vorteil zu denken als an das Wohl derer, für die er oder sie Verantwortung trägt?
Doch nun genug zu dem, was einen falschen Hirten ausmacht. Ich möchte hier lieber beim Bild des wahrhaft guten Hirten bleiben, wie wir es von Ezechiel hören und komme nochmals auf die Menschen zu sprechen, die sich, wie anfangs geschildert, voller Sehnsucht nach Licht und der Fülle des Lebens strecken. Als Seelsorger weiß ich, viele kommen mit der Rede von Gott, dem guten Hirten nicht klar. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, meinen sie und sagen etwa solche Sätze: „Ich erlebe das nicht. Ich sehe es auch nicht kommen. Ist er wortbrüchig geworden, hat das Interesse an mir, an uns verloren? Sind wir ihm gleichgültig geworden? Ist er tot? Gibt es ihn gar nicht?“ Es ist ihre Not, ihr Elend und ihr Leid auch durch Herrschaftsverhältnisse, die sie demütigen, knechten und an den Rand der Gesellschaft drängen, die bei ihnen solche Fragen aufwerfen und sie resignieren lassen.

Wo bleibt dieser Gott, der ein wahrhaft guter Hirte sein will? Das fragten sich auch die Juden zur Zeit Jesu. Da wurde einer in Bethlehem geboren. Jesus wurde er genannt. Ein göttliches Kind – der verheißene messianische Hirte aus dem Hause Davids, was besonders dem Evangelist Matthäus wichtig ist.
In ihm kam Gott in unsere Welt als der wahre Hirte und machte wahr, was er den Israeliten durch Ezechiel verhieß. Die Evangelien berichten uns: Dieser Hirte suchte wahrlich nicht das Seine, sondern ließ sogar sein Leben für die anderen. Er wandte sich nicht von ihnen ab, sondern war ergriffen von ihrer Not. Bei ihm erlebten sie, wie ein wirklich guter Hirte ist und was der tut: Barmherzig ist er und rührt die Herzen der Menschen mit seiner frohen Botschaft an. Er tröstet und stärkt. Er teilt an die Hungrigen Brot aus, heilt die Gebrechen der Kranken. Er tritt für Gewaltlosigkeit ein und für einen liebevollen Umgang der Menschen untereinander bis hin zur Feindesliebe. Er vergibt Schuld, damit Frieden untereinander und mit Gott möglich wird. Und über sich selbst sagt er im Johannesevangelium (10,11): „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Und so geschah es – am Kreuz. Doch er ist wieder auferstanden und hat dadurch sogar dem größten Feind des Menschen, dem Tod, die Macht genommen. Jesus Christus – der Retter, in dem Gott, der wahrhaft gute Hirte, in unsere Welt kam.

Ein letzter Gedanke: Bei Matthäus lesen wir ein Gleichnis, in dem das Bild des guten Hirten aus Ez 34,11-16 eine leitende Bedeutung bekommen hat. Es ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,10-14). Es thematisiert Jesu Zuwendung zu den Verirrten und Verlorenen. Doch ein solches Verhalten erwartet Jesus auch von allen, die ihm nachfolgen (Mt 10,5-9). Denn es soll ja niemand verlorengehen. Daher sollen sich auch die um sie kümmern, die Jesus nachfolgen, die also an ihn glauben. Nachfolge heißt eben auch, sich an Jesus, mit dem die Erfüllung von Gottes Heilshandeln angebrochen ist, ein Beispiel zu nehmen und sich auch als ein guter Hirt zu erweisen.
Mit Jesus und denen, die ihm nachfolgen, beginnt wahr zu werden, was Gott zugesagt hat: Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wieder zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken. Das heißt: Fürsorge für die Armen, Tröstung von Leidtragenden, Einsatz für Gewaltlosigkeit, Frieden stiften, den Nächsten und auch den Feind lieben, barmherzig sein, sich mit anderen versöhnen usw. Das Heil wird dann auf diese Weise auch für die, die in bisher unheilvollen Verhältnissen leben, erfahrbar, wenngleich vorerst immer nur fragmentarisch und diesseitsbezogen. Die Sehnsucht nach einem überaus glücklichen Leben, das über den Tod hinausgeht, die bleibt daher. Die Sehnsucht, dass die Wunden, die man im Leben bekommt, bleibend verbunden und geheilt werden und die Irrungen und Wirrungen im Leben ein Ende finden. Es bleibt das Sehnen nach einem ungetrübten Leben voller Glückseligkeit, nach letzter, ewiger Geborgenheit. Diese Sehnsucht ist jedoch bei den Glaubenden getragen von der Gewissheit, dass Gott am Ende der Zeit neues, vollendetes, unzerstörbares, ewiges Leben in unermesslicher Fülle in seiner Gemeinschaft schenken wird.