Haltestopp einer Regionalbahn, mit der ich unterwegs bin. Ein Jugendlicher kommt ins Abteil, reißt die Arme hoch und stürzt auf einen anderen in etwa dem gleichen Alter zu. Sie umarmen und knuddeln sich überschwänglich. Kaum hatten sie Platz genommen, zückt jeder sein Handy. Beide sind nun im Schweigen versunken. Nur an der Mimik und an ihren Bedien-Gesten am Handy ist zu erahnen, was sie da gerade auf ihm wahrnehmen. Nach etwa 20 Minuten hält der Zug auf einem Bahnhof. Einer will aussteigen. Der Abschied ist kurz. Mein Fazit: So richtig wahrgenommen hatten sie sich wohl nicht, und schon gar nicht andere Fahrgäste.
In einer Zeitschrift schilderte eine 17-Jährige, unter welch psychisch starkem Druck sie steht: „Wenn man online Bilder von sich postet und andere diese liken, ist das eine Art Bestätigung, wie ein Kompliment. Wenn man viele Likes erhält, fühlt man sich gut. Als ich früher abends ein Bild ins Internet stellte, griff ich morgens als Erstes zum Handy, um zu sehen, ob es gut ankommt. Fast wie ein Süchtiger … Viele sind heute nonstop online, es ist schwierig, sich abzugrenzen. So gibt es nie wirklich Ruhe vor dem Stress, sich profilieren zu müssen, auch weil heute jeder Popstar auf Instagram ist und so die Maßstäbe extrem hoch setzt. Man fühlt sich von der ganzen Welt bewertet.“

Beides ist schon ein paar Jahre her. Heute können wir infolge von neuen Möglichkeiten durch die Online-Dienste eine Zunahme solchen Verhaltens – im Übrigen nicht nur unter Jugendlichen und Menschen mittleren Alters – feststellen. Dieser Tage wurde berichtet, dass es gerade „in“ ist, möglichst viele Follower beim Essen online zusehen zu lassen. Die interviewte Frau sagte, ihr sei wichtig, dabei eine möglichst große Gemeinschaft um sich zu haben. Sie brauche das.

Viele Psychologen, Philosophen und Soziologen beschäftigen sich mit solchem Verhalten. Auf ihre Erkenntnisse will ich gar nicht weiter eingehen, sondern nur darauf hinweisen, was eigentlich jeder weiß: Wahrgenommen zu werden, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen, ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Das kann sogar überlebenswichtig sein, besonders für Kinder. Das Motto „sehen und gesehen werden“ ist von Haus aus also nichts Negatives. Allerdings kann es krankhafte Züge annehmen. Das Streben nach Aufmerksamkeit kann sogar zur Sucht ausarten, so dass es sich im Leben eigentlich nur noch darum dreht und die Wirklichkeiten im ganz normalen Leben immer weniger wahrgenommen werden.

Gesehen werden, um Aufmerksamkeit zu bekommen, ist wichtig für uns Menschen. Nicht unwichtig ist jedoch, wer uns wirklich wahrnimmt, und was dann daraus folgt.
Die Losung für das Jahr 2023 hat es auch mit Sehen und Wahrnehmen zu tun. Sie lesen wir im 1. Mose 16,13: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Dies bekennt Hagar, eine ägyptische Sklavin von Sarai, der Frau Abrams. Wie kam es dazu?
Sarai, ihre Herrin, und Abram, beide schon in hohem Alter, waren immer noch ohne Kinder. Die Zukunft dadurch verbaut. Was soll werden mit allem, wenn es keine Erben gibt? Was soll werden aus der Zusage Gottes, dass Abrams Nachkommen so zahlreich sein werden wie die Sterne am Himmel (Kap. 15,4-6)? Alles erschien sinnlos. Und: Ohne Kind ist Sarai, ist ihr Leben nicht vollständig. Nachvollziehbar erscheint da ihr verzweifelter Wunsch, irgendwie doch noch an ein Kind zu kommen. So schlug sie ihrem Mann vor, dass doch Hagar für sie ein Kind von ihm bekommen könnte. Dieses Kind kann dann, so das damalige Recht, als Erbe bestimmt werden. Abram stimmte dem zu. Daraufhin machte sie Hagar zu Abrams Nebenfrau. Hagar wurde dann von Abram schwanger. Nun wollte Hagar Sarai aber nicht mehr als ihre Herrin gelten lassen. Sarai beschwerte sich bei Abram. Der bestätigte ihr jedoch ihr Recht, dass sie die Herrin über Hagar bleibt. Sie demütigte nun Hagar so sehr, dass diese in die Wüste floh. Sie war nun zwar frei, aber in auswegloser Situation mit ihrem noch nicht geborenen Kind. Dort, in der Nähe eines Brunnens, verhieß ihr ein Unbekannter, den sie dann als Bote Gottes erkannte, eine große Nachkommenschaft durch die Geburt eines Sohnes, den sie Ismael (= Gott hört) nennen soll. Da begriff sie: Gott hatte sie, eine Sklavin in ganz niedrigem sozialem Status, erwählt, dass ihre Nachkommen zu einem großen Volk werden sollen. Und sie begriff, dass diese Berufung der ähnelte, die Abram bekam. Und so kam es dann auch Laufe der späteren Geschichte. Die Nachkommen waren der benachbarte Stämmeverband der Ismaeliten in der arabischen Wüste, mit dem die Israeliten trotz deren Eigentümlichkeiten auch immer besonders verbunden waren.
Als Hagar die Erwählung durch Gott also begriffen hatte, bekannte und pries sie Gott: Du bist ein Gott, der mich sieht. Sie, eine Frau und Sklavin ohne Ansehen, Rechte und in lebensbedrohlicher Situation, wird von Gott nicht übersehen. Sie erfährt seine Zuwendung und so seine Liebe. Sie erkennt, sie ist ihm wertvoll. Er interessiert sich für das, was sie erlebt, was sie denkt und fühlt. Hagar erfährt sich als freies, geliebtes Geschöpf Gottes. Dass Gott sie anerkennt und berufen hat, obwohl sie eine gedemütigte Sklavin ist, hat sie sodann auch innerlich verändert. Sie kann nun wieder zurückkehren. Denn sie ist gewiss, von Gott berufen und anerkannt zu sein. Nun wird sie die Situation und die Schwierigkeiten dort auch aushalten und tragen können. Wir kennen das ja auch: Wer sich unter Gottes gütigem Blick weiß, der kann Böses der anderen besser wegstecken und Schmähungen besser ertragen. Er gewinnt neue Selbstsicherheit, weil sich sein Selbstbewusstsein aus einer anderen Quelle speist.

So wie zu Hagar ist Gott auch zu uns. Von ihm gesehen zu werden bedeutet: Er vergisst keinen von uns – nicht in den schönen Momenten, aber auch nicht im Leid. Ob einer stark ist oder schwach. Ich, du, wir sind ihm wichtig. Er nimmt uns an, so wie wir sind. Wir müssen dafür auch gar nichts leisten. Er ist einfach da. Welch eine Liebe!
Solche Bejahung und Zuwendung bezeichnen wir heute mit „Würde“. Und die kann Hagar niemand nehmen. Sie kann auch uns nicht genommen werden. Denn sie ist uns Menschen als Geschöpfe Gottes von Anfang an geschenkt. Gott übersieht niemanden, egal, wie gut oder schlecht es demjenigen geht.

Gott übersieht niemanden. Das sollte freilich Folgen haben für unseren Umgang mit Menschen, besonders mit denen, die von uns doch leicht übersehen werden und die unter die Räder geraten sind – hier und anderswo in der Welt. Das Motto „sehen und gesehen werden“ würde ich daher nun lieber umdrehen in „gesehen werden und sehen“. Wer begriffen hat, dass er von Gott gesehen wird, wahrgenommen und geliebt wird, weiß, was in Bezug auf die Mitmenschen zu tun ist. Denn auch sie sind Geschöpfe Gottes, die er sieht. Wer das begriffen hat, sieht, was zu tun ist. Er übersieht nicht, die sonst unter uns übersehen werden und hilft ihnen. Er übersieht nicht die, denen es schlecht geht, die Kummer und Leid zu tragen haben. Er übersieht nicht die, die in Notlagen sind, die kein Dach über dem Kopf haben, die vor Kriegen und Hungersnöten flüchten und bei uns eine Bleibe suchen. Wer begriffen hat, dass er von Gott gesehen wird, begegnet seinen Mitmenschen mit Würde und Respekt und hilft ihnen, wenn es nötig ist, und so, wie er es vermag. Die Jahreslosung kann uns den Blick schärfen, dass wir ihnen zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen. Und Gelegenheiten dazu haben wir viele, wenn wir nicht über sie hinwegsehen, sondern sie wahrnehmen.

Du bist ein Gott, der mich sieht. Mit dieser Gewissheit, dass Gott auch uns sieht und begleitet, lasst uns getrost und zuversichtlich ins neue Jahr gehen. Lasst uns dabei auch nicht den Blick verlieren für die, die uns brauchen, damit sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Denn unser Gott ist ein Gott, der auch meine Mitmenschen sieht und liebt.