Koproduktion, Kraftakt, Künstlerdrame

In der Kunst ist Gemeinsames möglich. Das ist ein Grundgedanke aus Wagners „Meistersinger“, der in der Theaterwelt von Erfurt und Weimar Realität geworden ist. Noch ist sie keine Gemeinsame. Doch keines der beiden Häuser hätte die Oper heutzutage alleine zu stemmen vermocht (Erfurts letzte Meistersinger-Inszenierung stammt aus 1963, die Weimarer aus 1977). Nicht nur für die Opernchöre ist die Koproduktion eine tolle Erfahrung - 80 Sängerinnen und Sänger stehen gemeinsam auf der Bühne (Leitung: Andreas Ketelhut /Erfurt und Markus Oppeneiger/Weimar)! Auch die Solisten kommen aus beiden Häusern. 6 Meister aus Erfurt: Vazgen Ghazaryan (Veit Pogner), Richard Carlucci (Balthasar Zorn), KS Jörg Rathmann (Ulrich Eisslinger), Thomas Paul (Augustin Moser), Siyabulela Ntlale (Hermann Ortel), Gregor Loebel (Hans Schwarz), 5 aus Weimar: Artjom Korotkov (Kunz Vogelgesang), Andreas Koch (Konrad Nachtigall), Bjørn Waag (Sixtus Beckmesser), Alik Abdukayumov (Fritz Kothner), Dae-Young Kim (Hans Foltz). Das DNT Weimar besetzt die Herren Protagonisten Walther von Stolzing (Heiko Börner) und David (Jörn Eichler), Erfurt die Damen Eva (Ilia Papandreou) und Magdalena (Stéphanie Müther).

Frank van Hove wurde als Sachs engagiert, und für mich ist er, was Stimmkultur, Stimmführung und sonores Timbre betrifft, gleichermaßen Spielfreude und Ausstrahlung, eine Entdeckung. 2014 in Karlsruhe, sang er noch den Pogner, jetzt ist er Sachs, muss ihn nicht spielen und singt ihn scheinbar ohne jede Anstrengung. Sein Rollendebut wurde von den Gästen der Festwiese gefeiert!

Tatsächlich verschmelzen Sänger und Besucher ab dem gewaltigen „Wach auf!“, zu dem die Chorsänger die Gänge rechts und links vom Parkett füllen und uns in ihre Mitte nehmen, während Hörner und Trompeten von den Rängen her, nicht von der Hinterbühne, blasen (Einsätze dürfen noch geübt werden). Da macht es fast nichts, dass das, nein die Orchester (das Philharmonische Orchester Erfurt, verstärkt von der Thüringen Philharmonie Gotha) hin und wieder akustisch untergehen.

Was das Bühnenbild von Tom Musch betrifft, das mich an Anna Viebrocks Arbeiten erinnert, teile ich die Vermutung von Michael Helbing („Thüringer Allgemeine“ vom 25.5.2016), es müsse sich an den traurigen technischen Möglichkeiten des DNT Weimar orientieren. Das Erfurter Theater kann technisch wie optisch sehr viel mehr! Wir finden uns irgendwo in der Wirtschaftswunderzeit wieder. Städte wie Nürnberg sind größtenteils wieder aufgebaut, schmucklose Fassaden mit großen Fenstern entstanden. Sachs bewirbt seine kleine Werkstatt mit einem Neonreklame-Schuh. Die Kostüme von Marie-Thérèse Jossen sind alltäglich.

Ich schätze Inszenierungen, die mir zu denken geben. Ich liebe Inszenierungen, bei denen (wenigstens punktuell) Musik und Szene verschmelzen und so besonders zu berühren vermögen. Bei Vera Nemirova habe ich von beidem einiges gefunden.

Wenn die 29jährige Erfurter GMD Joana Mallwitz die Orchester (endlich) entschleunigt und Sachs zu seinem Fliedermonolog quasi gegen die szenische Tristesse einen Fliederbaum einpflanzt (das einzige Grün auf der Szene) oder Beckmesser, der noch mit den Blessuren der Johannisnacht, zu Beginn des 3. Aktes wie in Trance innig und mit Verve ein nur für ihn sicht- und hörbares Orchester dirigiert, das berührt mich.

Leider wird die Idee aus dem 1. Akt, die Meister als Orchestermusiker zu zeigen, von der Regisseurin nicht weiter verfolgt – oder bewusst gebrochen. Die Meister erreichen jedenfalls nie Stühle und Pulte, ihr Orchester kommt nie zum Einsatz. Stattdessen müssen sie während der Freiung im 1. Akt der Körperertüchtigung frönen (Gymnastik, Trimmrad, Sachs macht Tai-Chi, Beckmesser und Pogner drücken sich ganz) und auf der Festwiese Maßkrüge leeren. Da bleiben Fragezeichen. Nicht bei der Personencharakterisierung. Hier setzt Vera Nemirova zwei Schwerpunkte. Zuerst bei Beckmesser, hier Exzentriker, avantgardistischer Künstler. Wenn er sich z.B. die Fehler auf den Leib schreibt, d.h. auf sein schwarzes Jackett, oder sich im Finale des 1. Aktes neben Stolzing stellt (beide auf Stühlen!) und ihm dann den Judaskuss aufzwingt, ist klar, wer hier Platzhirsch und Enfant terrible ist - Stolzing ist es jedenfalls in dieser Inszenierung NICHT!! Beckmesser verwendet neueste Technik (Mikrofon/Verstärkeranlage), er hat gar eine Elvis-Glitzerjacke im Gepäck. Einerseits bricht er in Tränen aus, als er entdeckt, dass Sachs ihm mit Kreidestrichen die Fehler auf der Sohle seines Schuhs angemerkt hat. Andererseits scheint es, als klebe noch etwas von seinem Linzer Alberich an Bjørn Waag, wenn er im 2. Akt Sachs gegenüber handgreiflich wird, sich selbst stimmlich massiv gegen ihn stellt, im 3. Akt schließlich die Pistole zieht, sich eigentlich umbringen möchte (Russisch-Roulett) und zuletzt mit den „Mielke-Worten“ „ich liebe euch doch alle“ abgeht. Das ist krasse Karikatur – von Bjørn Waag perfekt auf den Punkt dargestellt und gesungen.

Ihren zweiten Schwerpunkt setzt die Regisseurin bei der Dreiecksgeschichte von Sachs, Eva und Stolzing. Sie arbeitet die sowohl erotische als auch bis ins Aggressive reichende Spannung zwischen ihnen meisterhaft heraus. Da brennt die Luft, die drei Liebenden ringen umeinander. Die Buhs für die Regisseurin, die den starken Schlussapplaus durchzogen, mögen dem verstörenden Schluss geschuldet sein. Nemirova erklärt ihn im Interview so (Programmheft, S. 46f): „Ich glaube, dass der Monolog von Hans Sachs, der so oft als eine diktatorische Rede gedeutet wurde, eigentlich ein verzweifelter Monolog von jemandem ist, der gerade das Liebste verloren hat. Er hat Eva an Stolzing verloren. Auch Stolzing, der ihm seinen Erfolg verdankt, weist ihn am Ende ab. Aus dieser Verzweiflung setzt er ein starkes Plädoyer für die Kunst, hier die deutsche Kunst und die Meister, denen wir zu wenig Beachtung schenken. Und ich finde, das ist gut, es wird nur oft falsch gedeutet. Die aufgebrachte Menge, die hinterher seinen wichtigen Satz aggressiv wiederholt, hat das nicht verstanden, wenn sie daraus einen Schlachtruf macht. Daran zerbricht Hans Sachs.“

Frank van Hove zeigt das in ganzer Bandbreite von erstem Erschrecken bis zu verzweifeltem Aufbäumen und um sich schlagen. „Die Geister, die ich rief…!“ Da brechen Szene und Musik auseinander.

Die Festwiese ist mehr als „typisch deutsch“ mit Maßkrügen und Rostbratwurst. Um Carl Dalhaus zu zitieren: „Die Meistersinger sind das Werk eines Humors, dem nicht zu trauen ist.“ Dem Humor auf der Festwiese ist jedenfalls nicht zu trauen. Martialisch klingt es aus dem Orchester, derb und blechern, es geht um Gaudi und Fressen, nicht um Würde und Ehrfurcht vor den Meistern. Gewalt ist und bleibt ein Thema auch hier. Nicht nur, dass David die Verletzungen durch Sachs‘ Schläge mit dem Knieriemen auf seiner Haut herzeigt! Die Schlagstöcke und Benzinkanister, Flaschen und Nebeltöpfe, ja Brandsätze, ließen die Prügelszene zum Inferno werden (in der das Orchester bis auf die Tuba gegen den Chor klanglich komplett unterging). Und ach, der Nachtwächter! In den Inszenierungen, die ich im letzten Jahrzehnt gesehen habe, hat ihm die Regie viel zugemutet. Nachtwächter durfte er selten sein, aber Penner oder Müllmann. Hier nun ist er ein gestrandeter, verletzter, in Rettungsdecke gehüllter Flüchtling. Auf der Festwiese zieht Beckmesser die Pistole.

Für die Orchester gab es viel Jubel. Von Anfang an dirigierte Joana Mallwitz in meist stürmischem Tempo, was manchmal, besonders im Vorspiel, der Klangbalance der Instrumentengruppen nicht gut tat und der Einsatz des Glockenspiels (nicht nur des Triangels) in dessen letzten Takten den Zusammenklang ganz und gar sprengte. Keine Zeit für Klangfinessen! Dafür keine Längen oder Langeweile. Das Ganze war ein Kraftakt - bis an die Grenzen des sängerisch Möglichen, jedenfalls für Heiko Börner (Stolzing) und Jörn Eichler (David), die mit Anstrengung und Druck ihre Partien stemmten und bewältigten. Rollendeckend, mit gewohnter Qualität und mit Heimvorteil, sangen die Erfurter Protagonistinnen.