Schon beim Einspielen des Orchesters war es aus dem Graben wieder und wieder von Solohornist Erich Markwart zu hören: das aus 8 Tönen bestehende Hornmotiv, das für den Königssohn steht. Damit beginnt – con fuoco – die Ouvertüre, damit beginnt Humperdincks Leitmotivtechnik. Siegfrieds Hornruf hat hier seine fröhliche Entsprechung. Anklänge an Wagner sind deren viele zu entdecken im meist ungebrochenen musikalischen Fluss. Die geheimnisvoll-furchterregende Stimmung, die Humperdinck z.B. bei dem Zauberspruch der Hexe (1. Akt: Fluch über das Brot: „Wer es hälften isst, stirbt ganzen Tod.“ mit Tönen malt, findet sich sehr klangähnlich bei der Verwandlung von Alberich in Riesen-Wurm und Kröte. Die wegweisenden Tauben erinnern an Siegfrieds Waldvogel und Humperdinck scheut auch nicht vor Eigenzitaten zurück, wenn er etwa beim Einzug der Besenbinder-Familie das Besen-Motiv aus „Hänsel und Gretel“ wieder verwendet.

Unter der Hand charakterisiert er damit den Besenbinder gleich mit.

Wie ich es von Wagner kenne, verwendet Humperdinck die Harfe an besonders exponierten Stellen, z. B. am Ende des 2. Aktes, wenn das Kind des Besenbinders als einziges erkennt, wen die Hellastädter da geschlagen und vertrieben haben: „Das ist der König und seine Frau gewesen“. Oder am Ende dieses unsagbar traurigen Vorspiels zum 3. Akt (ist es ohne jenes von „Tristan und Isolde“ denkbar?), wenn, von den Hörnern eingeleitet, Frieden wird und in den von der Harfe begleiteten Violinen für einen Moment die Sonne aufzustrahlen scheint. Die Musik des 3. Aktes vermag am stärksten, einen Sog zu entwickeln und tief zu berühren, sei es mit der Klang gewordenen Gewissheit der Gänsemagd „Der Tod kann nicht kommen, ich liebe dich.“ oder dem Schlussgesang des Spielmannes.

Die Partitur der ‚Königskinder’ ist sehr genau in der Wahl der Mittel. Die Musik ist an vielen Stellen eindringlich in ihrer Farbigkeit und Leichtigkeit, ebenso in ihrer Erzählkraft und ihrer Wirksamkeit. Auch wenn der in Wien geborene Dirigent Thomas Rösner, der die Oper gut kennt (er leitete bereits im Dezember 2007 die „Königskinder“ in München) Höhepunkte stellenweise noch zu abrupt gestaltet und ich mir im 3. Akt an manchen Stellen mehr Ruhe und einen Moment, an dem beim Sterben der Königskinder die Zeit still steht, gewünscht hätte, spürt man unter seiner Leitung die Freude der Dresdner Staatskapelle an diesem wundervollen spätromantischen Werk.

 

Wohl wissend, dass die Aussage des Stücks viel zu groß ist, als dass man sie auf die 30er Jahre als Beispiel für eine Zeit und eine Gesellschaft, „die in der Luft hängt“ und sich nach einer Führerfigur sehnt (vgl. Programmheft, S. 8) begrenzen könnte, tut Regisseurin Jetske Mijnssen es doch. Sie versetzt das Märchen in das Treppenhaus einer vornehmen Villa (nur im 2. Akt wenig abgewandeltes Einheits-Bühnenbild von Christian Schmidt).
Was erreicht sie? Die Sphäre des Unheimlichen und Grausamen, die zum Märchen gehört, verschwindet weitgehend, sodass die Musik an diesen Stellen alleine bleibt. Die Hexe kommt daher wie eine Gouvernante, im Foyer wirkt der Zauberbann höchst deplatziert und die Brotback-Szene ist atmosphärisch völlig ‚verschenkt‘. Ebenso wenig passend sind die im 2. Akt zur Servicekraft im Fünf-Sterne-Hotel mutierte Stallmagd (Rebecca Raffell) und deren wadenbissiges Geplänkel mit der Wirtstochter, hier: Tochter des Hotelbesitzers (Verena Gunz). Der Raum passt nicht zum Drama, mehr noch, er nimmt ihm vieles von seinem Schmerz und Ernst. Das Märchen zeigt, wie zwei empfindsame und von Grund auf gute junge Leute an der Unmenschlichkeit anderer scheitern, weil sie nicht zu ihren Erwartungen passen. Es geht um Herzensbildung: der Königsohn begreift, wie wichtig es ist, einmal als Herrscher seinem Volk zu dienen; die Gänsemagd überwindet ihre Furcht vor übler Nachrede und bekennt sich mutig und selbstbewusst zu ihrer Liebe. An ihrer Seite der Spielmann (Christoph Pohl), leider in höchst unpassendem Kostüm (ebenfalls von Christian Schmidt), einem Anzug mit roter Schleife und „Kreissäge“ im Stile der Comedian Harmonists. Der Geigenkasten, den er mit sich trägt, er bleibt geschlossen. Wie wenig passend für einen Spielmann, der Lebens-Deuter und quasi (Seelen-)Führer durch die Oper ist, ein Gurnemanz besonderer Art, der immer mehr weiß als die anderen, ohne den die Gänsemagd den entscheidenden Entwicklungsschritt am Ende des 1. Aktes nicht hätte tun können und dessen Schlussgesang über alles Irdische hinaus weist. „…das Lied, das der alte Spielmann euch gab, von der Erde zum Himmel, vom Himmel zur Erden! So macht euch sehend ein armer Blinder: fühlt aus dem Tode sie auferstehn und leuchtend in eure Herzen gehn: die Königskinder!“ Dass diese Hellsichtigkeit des Spielmannes eben gerade mit der Musik verbunden wird, hätte der Wahrnehmung der Regisseurin sehr wohl bedurft. Ebenso, dass Natur- und Seelenstimmung durch die Kunst des Komponisten zu unlösbarer Einheit zusammen wachsen. Hier durften sie es nicht.

In dieser Spielzeit steht die Oper nur in Dresden auf dem Spielplan. Wie gut und wichtig das ist, wird verkannt! Die Welt hat dieses Märchen nötig, das dem Tun und Lassen einer reichen, hartherzigen, egozentrischen Gesellschaft den Spiegel vorhält. Doch die Produktion wird nach nur 10 Vorstellungen seit der Premiere am 19.12.2014) vom Spielplan verschwinden. Das kann nicht nur an den die Vorstellung vom 6.11. prägenden Besetzungsproblemen liegen. Der Vertreter des Künstlerischen Betriebsbüros begrüßte zu Beginn mit den Worten, die Königskinder seien die Sorgenkinder des Hauses. Barbara Senator konnte an diesem Abend die Gänsemagd nur spielen. Juliane Banse sprang sehr kurzfristig ein und sang ihren Part vom Bühnenrand aus. Janina Baechle hatte die Rolle der Hexe wenige Tage zuvor aus Krankheitsgründen zurückgeben müssen. Katja Pieweck vom Ensemble der Hamburgischen Staatsoper übernahm und lernte die Partie in nur wenigen Tagen. Ein ausgezeichnetes Rollendebut! Während der Proben für die Wiederaufnahme war Christoph Pohl krankheitshalber ausgefallen, sang aber an diesem Abend den Spielmann tadellos. Im Finale gelang es ihm, stimmlich einen letzten Funken Hoffnung zu bewahren und weiterzugeben. Daniel Behle, sehr dem Liedgesang verbunden (Diskographie-Schwerpunkt!) - und im kommenden Jahr wird er als Loge und David debutieren - sang schon 2012 den Königssohn in der Produktion in Frankfurt/Main und beherrscht die Partie, bei der vieles aus dem Parlando heraus funktioniert, hervorragend. Er ist in jedem Moment authentisch und zeigt durch den von Akt zu Akt veränderten Ausdruck seiner Stimme die innere Entwicklung vom Abenteuerer zu einem verantwortungsbewussten, liebenden Mann.

Für die viele kleinen und Kleinst-Rollen standen teils Künstler auf der Bühne, die größere Aufgaben verdient hätten, z.B. Matthias Henneberg (Ratsältester). Verlässlich und rollendeckend Tom Martinsen (Besenbinder), Michael Eder (Holzhacker) und Martin-Jan Nijhof (Wirt). Sehr schöne Leistungen zeigten die Tänzerinnen der Ballettschule Semper mobilis (Gänse) und die Mitglieder der Kinderkomparserie (Tauben und Katze) und Elias Siodlaczek, Mitglied der Aurelius Sängerknaben Calw, hier ausgestattet als „kleiner Spielmann“.