In diesem Jahr wird Puccinis 100. Todestag (29. November 1924) gedacht – da ist „Tosca“ in Erfurt (Premiere 28.9.2024) ein Muss. Das Haus füllt diese Oper zuverlässig, erst recht, wenn zusätzlich 75 Plätze auf der Bühne zum Sonderpreis angeboten werden. Einmal dort zu sitzen, sollte man sich nicht entgehen lassen, zumal, wenn man das Stück kennt und sich deshalb auf das von Stephan Witzlinger inszenierte Kammerspiel konzentrieren kann, das sich in aller Brutalität und Intensität direkt vor einem vollzieht.
Dramaturg Arne Langer wies vor Beginn die Besucher, die auf den Bühnenplätzen in einem hörsaalähnlichen Halbrund sitzen, darauf hin, dass sie als Beobachter, Mitwisser und - da ein Eingreifen nicht vorgesehen sei - auch als Mitschuldige an diesem Drama fungieren. Eine intensive Erfahrung! Auf Armeslänge von den Künstlern entfernt, sind deren Stimmen wie Emotionen stark zu spüren. Die Liebe zwischen Tosca und Cavaradossi ebenso wie sein erwachender Kampfgeist, um Angelotti zu retten.
Bevor das Orchester mit den vier Akkorden, die Scarpias Brutalität kennzeichnen, einsetzt, weist er schweigend eine Gruppe von Ministranten an, einen Leichnam an den Füßen aufzuhängen. (Er schwebt über dem gesamten Geschehen des 1. Aktes). Am intensivsten hat der Regisseur an der Rolle des Scarpia gearbeitet. Er wird von allem Anfang an wie ein mächtiger Sektenführer gezeigt, dem junge wie alte Menschen absolut hörig sind. Um das zu verstärken, ist die Gruppe der Messdiener (Kinder- und Jugendchor der Chorakademie Erfurt) auch zu Beginn des 2. Aktes auf der Bühne, um Scarpia (im anthrazitfarbenen Dinnerjacket) zu lauschen, ihn anzuhimmeln, seine Befehle zur Folterung von Cavaradossi und deren Folgen aus nächster Nähe sehen können. Ihr Kreischen angesichts des verletzten Cavaradossi klingt nicht ängstlich, sondern eher wie Siegesgeheul.
Der Hörsaal wird im 2. Akt zum Sektionssaal. Dort spielt Scarpia mit chirurgischen Folterinstrumenten. Sein Charakter changiert jetzt zwischen Kälte und höchster Erregung, er spielt mit allem und allen. Großartig, wie Máté Solyom-Nagy das in seinem Rollendebut zeigt.
Auffällig ist, dass der Regisseur alles ganz konsequent auf die Bühne holt. Zu Beginn des 2. Aktes wird die Kantate vom Chor nicht entfernt auf der Hinter- oder Seitenbühne gesungen, sondern coram publico – was zu erstaunlichen musikalischen Überlagerungseffekten führt. Der tote Angelotti wird auf die Bühne gezogen, die kleine Trommel, die das Todeskommando ankündigt, wird direkt auf der Bühne gespielt. Auch das Volk ist da, wenn Scarpia stirbt. Sie stehen zu ihm und in diesem Moment um ihn herum. Alle, eben auch ein Teil der Zuschauer, sind in diesem Auge der Macht vereint, dem Zentrum und Schmelztiegel von Gewalt und Perversität, in dem jeder jeden beobachtet und nichts zu verbergen möglich ist.
In diesem Zentrum genügt ein Tisch als Requisite. War der Tisch im 1. Akt ebenso Liebesbett für Tosca und Cavaradossi wie Altar der Macht von Scarpia, so ist er im 2. Akt Schreibtisch, Tafel und Platz für eine Anzahl von chirurgischen Instrumenten, mit denen Cavaradossi gefoltert und ihm neben diversen Verletzungen im Gesicht und am Bein ein Finger abgetrennt wird.
Im Regiekonzept des 3. Aktes war für den von Puccini vorgesehenen Hirten kein Platz. So wird aus ihm ein trauernder Engel. Es ist sicher kein Zufall, dass dessen weißes Kleid dasselbe Muster trägt wie das von Tosca im 1. Akt, das Kleid der liebenden Geliebten. Dieser Engel (Elsa Langer) ist es dann auch, der aufschreibt, was Cavaradossi Tosca noch sagen will. „E lucevan le stelle…“
Jérémie Schütz hat den Cavaradossi bereits in Genf und Martigny gesungen, aktuell gastiert er mit dieser Rolle auch in Cottbus. Sein glänzender, leicht metallischer Tenor ist ideal für die Rolle.
Die Britin Claire Rutter (a.G.) hat die „Tosca“ schon an einer ganzen Reihe von hochkarätigen Häusern gesungen, z.B. in Helsinki, Reykjavik, London (ENO) und West Horsley (Grange Park Opera), an der Opéra de Bordeaux und am Theater Basel. Meine Vermutung ist, dass die Erfurter Inszenierung die einzige ist, in der sie in der Rolle überlebt, also weder von der Engelsburg in den Tod springt (wie Puccini es vorschreibt) oder auf andere Art ums Leben kommt.
Tosca ist in Witzlingers Inszenierung eine ungewöhnlich starke Frau, die Scarpia auf Augenhöhe gegenübertritt. Der reizt sie bis aufs Blut, nötigt sie sogar, ihn zu töten und das tut sie - zu seiner finalen Überraschung! Ihr Suizid passe nicht, das war die einhellige Meinung im Inszenierungsprozess. Der neue Schluss entspricht zwar weder dem Libretto und kaum der Musik, ist aber ebenfalls grausam. Tosca hat dem toten Scarpia den Siegelring der Macht abgenommen und von diesem Moment an erscheint sie noch stärker. Als im Finale der Chor die Bühne stürmt („Da ist sie – sie hat Scarpia erstochen“) hebt sie mit herrischer Geste die Hand mit dem Ring zu einem neuen rituellen „Siegesgruß“ – worauf die Frauen diese Geste sofort kopieren und ihr damit antworten, die Männer aber vor ihr niederknieen. Kein Ende der Macht, sondern ein neuer Anfang.
Was sich vom Bühnenplatz aus verbietet, ist die Beurteilung des Orchesters – das hört man deutlich weniger als im Zuschauerraum. Was aber gesagt werden kann: Clemens Fieguth dirigiert mit ganz klarer Zeichengebung, gibt sängerfreundlich viele Einsätze, alles auf Sicherheit, ohne Wackler. Das führt an manchen Stellen nur zu etwas getragenen Tempi.
Die Protagonisten hört man aus Bühnenperspektive anders, weil ohne Saal-Akustik. Es ist in diesem Moment aber auch nicht wichtig, wie sie über das Orchester kommen und wie alles zusammenklingt. Es ist fesselnd genug, wie sie es direkt vor einem singen und spielen.
Der Vorhang fiel und ich saß dahinter! Wohl weil konzeptionell die Einbindung der Bühnen-Zuschauer so klar war, wurde an diesem Nachmittag meine vergleichbare Erfahrung (Bühnenplatz in Baumgartens „Tannhäuser“ in Bayreuth) noch getoppt.