Die Gemeinde in Philippi war die erste, die der Apostel Paulus auf europäischem Boden gegründet hatte. Zu ihr hatte er ein unbelastetes, ja geradezu herzliches Verhältnis, wie wir es aus seinem Brief, den er an sie er aus dem Gefängnis schrieb, erfahren. In ihm dankt er den Philippern mit herzlichen Worten für die Gemeinschaft, die er dort erfahren hatte. In seinem Dank formuliert er zugleich auch eine Fürbitte für die Gemeinde, indem er schreibt: Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung (Phil 1,9 – der Monatsspruch). Dahinter steht, so entnehmen wir es dem Brief später, die Beobachtung von Spannungen in der Gemeinde, die in einer „Zerschneidung“ und in einem Irrweg enden könnten.
Paulus will für die Gemeinde beten, und zwar dafür, dass ihre Liebe noch reicher werde. Um besser verstehen zu können, wie er das meint, müssen wir den folgenden Halbvers mithören: so dass ihr prüfen könnt, was das Beste sei.

Paulus spricht ihnen also nicht ab, dass sie nicht ohne Liebe sind. Doch er sieht bei ihnen offensichtlich Defizite – nicht in mangelnder Liebe, sondern in dem, was sie aus Liebe und wie sie es tun. Paulus stellt, wenn es um die Liebe (griechisch agape) geht, auch hier die Frage, was denn aus solcher Liebe heraus dann zu tun sei, und antwortet darauf: das, was das Wesentliche (diese Bedeutung ist näher am Urtext als „das Beste“) für den anderen ist.

Doch was ist das Beste, das Wesentliche für den anderen? Darüber besteht keineswegs immer Einigkeit. Zum Beispiel sind Eltern darüber durchaus auch unterschiedlicher Ansicht, wenn es um ihre Kinder geht. Ist es beispielsweise immer richtig, Zeugnisnoten mit Geld zu „versilbern“, das die Kinder dann irgendwann sinnlos ausgeben? Oder ist es nicht besser, ihnen doch eher einen besonderen, erlebnisreichen, gemeinsam verbrachten Tag zu schenken, an den sie sich noch lange erinnern werden?
„Was ist das Beste für unsere alt gewordenen Eltern, die nicht mehr allein zurande kommen?“ Diese Frage stellt sich häufig den Kindern. Sie suchen redlich nach einem passenden Alters- und Pflegeheim in der Überzeugung, dass dies das Beste für sie sei. Doch eines Tages hören die Kinder von ihrem Vater oder ihrer Mutter: „Ihr habt es sicherlich gut gemeint. Ich werde hier gut versorgt. Doch in Wahrheit geht es mir schlecht. Niemand hat Zeit für mich – für ein Gespräch, fürs Zuhören, fürs Anteilnehmen. Und gerade auch ihr nicht. Das macht mir sehr zu schaffen. Ich leide daran.“
„Welches Projekt wollen wir unterstützen?“, fragen sich Gemeindekirchenräte und sind sich keineswegs immer einig. Sollen die Spendengelder an „Brot für die Welt“ gehen oder für die Flüchtlinge zur materiellen Unterstützung oder für die Förderung ihrer Sprachausbildung und Eingliederung verwendet werden? Oder sollen die Mittel aufgeteilt werden, und wenn ja wie?
Eine andere Frage: Gebe ich dem knienden Bettler vor der Kirchentür was in seinen Hut oder gehe ich vorüber, weil ich von Bettler-Mafias gehört habe, die gnadenlos solche von ihnen abhängige Menschen auf die Straße schicken, das erbettelte Geld am Abend einstreichen, aber die Bettler wie den letzten Dreck behandeln? Die hätten dann gar nichts von meiner Spende, sondern nur die, die sie so entwürdigend aussaugen und sich auf unsere Kosten bereichern.


Was ist das Beste, das Wesentliche für die anderen? Um das herauszufinden, ist Erkenntnis und (sittliche) Erfahrung erforderlich, so Paulus. Nicht aus Voreingenommenheit, nicht aus einem irgendwie gearteten Bauchgefühl, nicht aus sturem Festhalten an irgendwelchen überholten traditionellen Werten und nicht aus ideologischen oder weltanschaulichen Überzeugungen soll es herausgefunden werden. Sondern worin das Wesentliche besteht, lässt sich zunächst aus Erkenntnis herausfinden. Dieses Wort ist bei Paulus ein wichtiges Wort. Er versteht darunter das intellektuelle Verstehen des Willens Gottes und dessen Anerkennung. Das bedeutet, man muss eben seinen Gott kennen, wenn es mit der Liebe etwas Rechtes werden soll. Ähnlich ist es mit dem Wort, das wir mit (sittlicher) Erfahrung übersetzen. Es hat die Bedeutung von „sittlichem Unterscheidungsvermögen“, von „ethischer Urteilskraft“. Wir sollen in unserer Liebe die Augen offen haben, um zu wissen, wo ein Zufassen nötig ist, aber auch, damit das, was uns begegnet und beansprucht, wir nicht undifferenziert hinnehmen, sondern wissen, worauf es wirklich ankommt und das dann auch tun.


Wer den anderen liebt, wird sich viele Gedanken darüber machen, worauf es bei seinem Tun wirklich ankommt. Unsere Liebe soll einen kritischen Blick haben, aber dann das ergreifen und tun, wofür sie sich wirklich einzusetzen hat. Dass uns das oft nur schwer gelingt und wir dabei auch immer wieder versagen, wissen wir alle. Das wird es unser Leben lang so sein. Wir haben´s letztlich nie in unserer Hand, das Wesentliche herauszufinden und es dann auch zu tun. Deshalb sollen wir es im Gebet vor Gott tragen. Wir brauchen dazu seine Hilfe, damit unsere Liebe mehr und mehr weiß, was das Wesentliche für unsere Mitmenschen ist und worauf es dann in unserem Tun, in unserem Handeln an ihnen wirklich ankommt.