Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (5. Mose 30,14) Dies ist einer der letzten Sätze in der Schluss- bzw. Abschiedsrede des Mose an die Israeliten, bevor sie nach der jahrzehntelangen Wüstenwanderung den Jordan ins gelobte Land überschreiten werden. Stundenlang hatte er ihnen zuvor dieses Wort, Gottes Wille mit den Geboten, Gesetzen und Vorschriften, eindringlich ans Herz gelegt. Sie sollten Leben die Fülle haben und nicht Gefahr laufen, es zu verwirken, wenn sie den Willen Gottes außer Acht lassen. Leben und Tod hängen also davon ab. So deutlich sagte er es. Die Israeliten sollen wissen, was auf dem Spiel steht. Und deshalb schärfte Mose ihnen stundenlang Gottes Willen ein, damit keiner verloren gehe, wenn sie ihn beachten und tun.

Nun, wer die ganze Schlussrede des Mose liest, wird sich zunächst fragen, wer dies alles denn so erfüllen kann – die vielen hundert Gesetze, Gebote und Vorschriften. Und wir Christen fragen darüber hinaus, inwieweit das alles für uns überhaupt noch gilt, wo doch nach Paulus Jesus Christus das Ende des Gesetzes ist (Röm 10,4). Lesen wir hier jedoch noch bis zum Vers 10 weiter, so erhalten wir eine Antwort darauf, die klärt, wie Paulus das meint. Nicht die Einhaltung dieser ganzen Gesetze und Vorschriften – sie kann ohnehin keiner alle vollständig erfüllen – bewahren dich vor dem Verlorensein, sondern wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus Christus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet (Röm 10,9). Das Wort Gottes, das nach Mose ganz nahe ist, das haben wir Christen mit Jesus Christus. Da hört das Gesetz, das uns Leben statt Verlorensein bringen will, auf, indem im Glauben an Christus nun tatsächlich das, was das Gesetz will, zum Ziel kommt. Auch vom Evangelist Johannes hören wir das so deutlich: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden (Joh 1,14+17).

Nun, heute reden die Menschen weniger über Gerettetwerden vor dem Verlorensein. Selbst unter Christen stellen wir das fest. Die meisten Menschen empfinden ihr Dasein heute etwas anders und reden demzufolge auch anders darüber. Die Diesseitigkeit des Lebens mit all den Sonnen- und Schattenseiten steht im Vordergrund ihrer Empfindungen und ihres Nachsinnens über den Sinn des Lebens. Und oft macht ihnen das Angst, weil ihre Fragen zu keiner befriedigenden Antwort führen. Fragen wie: Was wird aus mir, aus meinem Leben, in dem vieles offen und unvollendet bleibt, nicht glücklich zu Ende kommt, was ich einstmals an Glück, Sinn und Erfüllung erträumte und erhoffte? Was bleibt, wenn ich einmal die Augen in dieser Welt zumache? Was wird aus mir? Menschen, die sich so fragen – und das sind viele -, haben Angst vor dem völligen Untergang, vor ihrem Sturz ins Nichts – spätestens, wenn der Tod naht. Doch schon immer ist die Menschheit von der Hoffnung auf ein sinnerfülltes, glückliches Leben erfüllt, das auch im Tod nicht endet und von dem sie in irgendeiner Weise eine, wenn auch sehr verblasste Ahnung in sich tragen. Die meisten bringen sie mit einer Gottheit in Verbindung, andere mit irgendetwas Transzendentem, von dem sie überzeugt sind, das es das zumindest jenseits des Todes gibt. Juden wie Christen machen ihre Hoffnung an Gott fest, der sich ihnen als Schöpfer und Erhalter des Lebens offenbart hat und den sie so auch immer wieder erfahren haben. Der sogar in seinem ewigen Reich der Liebe menschliches Leben vollendet und zum Ziel führt, und zwar – so bekennen es Christen - durch Jesus Christus. Er ist es, „der Heil und Leben mit sich bringt“, wie wir in dem Adventslied „Macht hoch die Tür“ singen. Er ist in diesem umfassenden Sinn der Retter unseres Lebens, wie immer unfertig und verkorkst es auch sein mag und vom ewigen Tod bedroht wird. Er, der in diesem Kind in der Krippe in unsere Welt kam. Der wie wir menschliche Not und menschliches Leid erfuhr. Der schließlich sterben musste, wie auch wir sterben müssen.

In ihm, den Gott schließlich auferweckte, ist uns Gott mit seinem ewigen Reich ganz nahe gekommen, damit im Glauben an ihn auch uns sein Reich der Liebe nicht verschlossen bleibt – weder hier noch zukünftig. Jesus selbst verkündet das – wie z.B. in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,1-11).

Damit zusammen hängt ein Zweites: Wer an ihn glaubt, d.h., ihm und seinen Worten ganz vertraut, dessen Leben wird sich verändern. Darüber redet Jesus immer wieder. Und uns selbst geht es ja auch immer wieder so. Er wird Buße tun, also umkehren von seinem bisherigen Weg, den er als falsch erkannt hat, wird sich anders verhalten zu Gott und seinem Nächsten, nämlich in Liebe zu Gott und den Mitmenschen. Er wird wie Jesus nach dem Willen Gottes fragen und ihn tun wollen – nicht gezwungenermaßen, sondern aus einem Herzen voller Liebe, weil nun Christus in ihm wohnt. In seinem Geist wird er den Willen Gottes, der das Fundament der Gottes- und Nächstenliebe ist, tun.
Denn es sollen durch unsere, aber von Gott kommende Liebe auch die anderen Menschen seine Liebe erfahren können, so dass auch ihr Leben erfüllter und reicher wird und sie gewiss werden können, dass auch ihr Leben aufgehoben ist in Gottes ewigem Reich der Liebe. Jesus Christus löst also das Gesetz nicht auf, sondern befähigt dazu, nach dem Willen Gottes, wie er sich in seinen Geboten manifestiert, in unserer Welt und für die Menschen unserer Welt zu leben.
Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. Im Glauben an Christus, dem Wort Gottes, hat diese Aufforderung zum Handeln in der Liebe zu Gott und zu unseren Mitmenschen nichts an Bedeutung eingebüßt, sondern ist uns in diesem Sinn gleichermaßen aufgetragen wie den Israeliten damals, damit keiner verloren gehe.