Eine schwerkranke, alte Frau in ihrem Krankenbett. Sie ist dankbar für jeden Besuch, doch voller Fragen. Immer wieder sagt sie: „Womit habe ich das nur verdient, dass ich so leiden muss? Der da oben, wenn´s ihn überhaupt gibt, ist so ungerecht zu mir. Womit habe ich das nur verdient?“

Ja, das ist eine Frage, die sich uns Menschen aufdrängt, wenn ein Unglück, eine schwere Krankheit oder ein Schicksalsschlag uns trifft. Wir brauchen eine Erklärung dafür, eine Antwort für solche Fragen. Im Ungewissen darüber zu sein, ist oft nur schwer auszuhalten.
Die Eltern und Angehörigen eines Kindes, das das ganze Leben noch vor sich hatte, doch nun mit dem Fahrrad tödlich verunglückte, brauchen eine Erklärung. Wir brauchen eine Erklärung für den Tod vieler Menschen, die bei Naturkatstrophen umkommen. Wir brauchen eine Erklärung, warum Menschen immer wieder sinnlose Kriege anzetteln und ihnen das Leid der Opfer dabei egal ist. Wir brauchen Erklärungen für so viel Schreckliches in der Welt.

Antworten finden wir manchmal. Sie liegen im Fehlverhalten – im eigenen sowie in dem anderer Menschen: zu schnell gefahren, zu habgierig, zu lieblos gegenüber anderen, zu knickrig auch, wenn´s um Gesundheitspflege und gesundes Essen ging, Drogen konsumiert, Raubbau an der Gesundheit. Oder im gesellschaftlichen Bereich zu lange wegen der Missstände geschwiegen, zu gleichgültig gewesen, als es um bedürftige Mitmenschen, um Flüchtlinge, um Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle ging usw.
Ja, an vielem, was uns Menschen widerfährt, sind wir selbst schuld – am Klimawandel und dessen Folgen z.B. auch, zumindest teilweise. Auf viele Fragen finden wir Antworten – auch in unserem eigenen Verhalten.

Doch es bleiben Fragen, auf die wir keine Antworten finden. Mit einer gewissen Resignation und Verbitterung sagen viele: „Das ist eben so. Das ist Schicksal.“
Viele, die an eine irgendwie höhere Macht glauben, denken aber auch, dass diese höhere Macht für das unerklärbare Schreckliche doch verantwortlich sein muss, dass sie - vielleicht ist es Gott - das so will. Anders können sie es sich nicht erklären. Und sie hadern deswegen mit ihm, klagen: Womit habe ich, womit hat der andere, womit haben wir das verdient. Irgendwie versuchen wir Menschen, Gott den „Schwarzen Peter“ für alles, was an unerklärlich Schrecklichem und an sinnlosem Leid und Geschick geschieht, in die Schuhe zu schieben. Gott als Lückenbüßer, von dem man sich doch dann eigentlich nur noch abwenden kann.

Gott als Lückenbüßer, als einer, der einen für irgendetwas strafen will? Solche Gedanken hatte auch ein Mann, über den wir in Psalm 38 lesen. Er hatte Aussatz, damals eine tödliche Krankheit, und durchschreitet die dunkelsten Abgründe seines Leidens, seiner Gottverlassenheit. Er konnte das nicht fassen. Sollte Gott ihn strafen? Aber für was? Worin bestand seine Verfehlung, seine Schuld? Für sich selbst fand er eine Antwort, indem er einen Zusammenhang zwischen seiner Schuld und seiner Krankheit erkannte und dann als Büßer lebte.

Doch es verbietet sich, die Antworten, die ein Einzelner für sich in seinem Ergehen gefunden hat, dann zu verallgemeinern. Zudem wissen wir heute, dass es viele Ursachen von Krankheiten gibt, von denen wir viele kennen und wo wir etwas dagegen tun können. Dennoch bleibt bei Krankheiten, bei Leiden und Widerfahrnissen oft Unerklärbares wie ein Rätsel bestehen, das für uns Menschen nicht lösbar ist.
Unerklärbares verweist auf Grenzen des Menschseins und des menschlich Erklärbaren. Es bleiben Geheimnisse, mysteria. Sie sind Zeichen dafür, dass Gott selbst „das Geheimnis der Wirklichkeit“ ist. Wir wissen nicht, warum manche Menschen länger leben müssen, als sie möchten, andere aber sterben müssen, noch ehe ihr Leben richtig begonnen hat. Und wir wissen erst recht nicht, wie sich Rätsel und Schrecken der Welt mit der Liebe Gottes vereinen lassen.

Eines aber dürfen und sollen wir wissen: Wir dürfen Gott unser Leid klagen so wie der Psalmbeter auch. Wir dürfen Gott, wie er es tat, in unserer Not um Besserung, Schutz und Heilung bitten. Davon hatte der Psalmbeter nie abgelassen. Er betete zu Gott (unser Spruch für den Monat Oktober): All mein Sehnen, Herr, liegt offen vor dir, mein Seufzen ist dir nicht verborgen (Ps 38,10). Er wusste: In Gottes Händen bin ich letztlich gut aufgehoben – wie auch immer es mir geht, was auch immer mir widerfährt.
Und wie er dürfen wir bitten, dass er trotz alledem uns nicht fallen lässt, sondern er uns mit seiner Liebe umgibt wie seinen Sohn Jesus Christus. Er litt unendliche Qualen und wurde gekreuzigt. Und dort am Kreuz erlebte er tiefste Gottverlassenheit – eine solche, in die wir hoffentlich niemals geraten mögen. Doch diese Gottverlassenheit, die im Tod endete, war nicht das Ende, sondern der Beginn zu einem neuen Leben in völliger Geborgenheit bei Gott. Darauf dürfen auch wir als seine Schwestern und Brüder im Zeichen des Kreuzes unseres auferstandenen Herrn hoffen – auf seine Liebe, die uns trotz des Leides und der unerklärbaren Widerfahrnisse in unserer irdischen Welt nie aufgibt, sondern zu einem guten Ausgang in der Geborgenheit bei Gott führt.

Es ist verständlich, wenn einer sagt: „Wenn ich das sinnlose Leid bei mir und in dieser Welt sehe, kann ich nicht glauben, dass es einen Gott gibt.“ Aber dieser Satz lässt sich auch umdrehen und fängt dann an zu leuchten – jedenfalls bei mir: „Nur wenn es einen Gott gibt, kann man das unendliche Leid in der Welt überhaupt aushalten!“