In der Übersetzung der Lutherbibel von 2017 lautet der Wochenspruch: Nach deinem Vermögen gib Almosen; auch wenn du nur wenig hast, scheue dich nicht, wenig Almosen zu geben. (Tobit 4,8)

Bei diesen Worten fiel mir ein Erlebnis ein, das ich vor mehr als 10 Jahren hatte. Eines Tages klingelte an meiner Pfarrhaustür ein Mann, der um Geld bat – ein Bettler also. Pfarrhäuser werden von ihnen immer gern angesteuert. Er wollte Geld. Ich bot ihm eine Essensmahlzeit und auch einen Gaststättenbesuch an. Er lehnte ab. Er brauche Geld. Ich fragte, für was. Er antwortete, das sei doch egal, er brauche es eben. Ich bot ihm Fahrgeld an. Er lehnte wiederum ab. Er brauche kein Fahrgeld und zeigte dabei auf sein Mofa, mit dem er offensichtlich gekommen war. Nach längerer Diskussion poltere er ziemlich aggressiv gegen mich los: „Ich habe ein Recht darauf, dass ich das Geld bekomme, das ich brauche.“ Das verschlug mir für einen Moment die Sprache. Ich erkannte ja keine Bedürftigkeit bei ihm, nur diese unverschämte und durch nichts gerechtfertigte Forderung.

Soll man da nachgeben, weil irgendwo unser christliches Gewissen sich meldet? Am Tisch Martin Luthers wurde einmal eine ähnliche Frage gestellt: „Herr Perknowsky legte Dr. M. Luther diese Frage vor und sprach: ‚Herr Doktor, wenn ich etliche Stücke Goldes oder sonst einen Schatz hätte, den ich nicht ausgeben wollte, und irgendeiner käme zu mir, um mich anzuborgen, könnte man es ihm mit gutem Gewissen verweigern und sagen: Ich hab kein Geld?‘ Der Doktor antwortete, dass dieses mit gutem Gewissen geschehen könne, als würde er sagen: Ich habe kein Geld, das ich ausgebe. Johannes sagt zwar: Wer Güter dieser Welt hat und sieht einen bedürftigen Bruder usw. (1 Joh 3,17), und auch Christus sagt: Gib jedem, der bittet (Mt 5,42), das heißt, der bedürftig ist. Er sagt nicht, jedem Müßiggänger und Verschwender, die doch allgemein die größten Bettler sind. Und ob ihm einer gleich viel gäbe, so ist ihm doch damit nichts geholfen.“[1]

Luther dachte an wirklich Bedürftige. Und diese Blickrichtung bekommen wir auch aus dem Monatsspruch. Das Buch Tobit ist im Griechischen verfasst worden. Das dort verwendete Wort eleēmosýnē meint „milde Gabe“ an einen bedürftigen Empfänger. Der Beweggrund dazu ist das Mitleid mit dem Bedürftigen. Der fromme Jude Tobit gab seinem Sohn Tobias vor seiner Reise in ein anderes Land diese Bitte mit auf den Weg.
Almosen geben, eine milde Gabe für Bedürftige, das sollte gerade für Christen natürlich etwas ganz Selbstverständliches sein, auch wenn sie selbst nur wenig an Hab und Gut haben. Luther gab gern Bedürftigen, manchmal sehr zum Leidwesen seiner Frau Käthe, die als kluge Wirtschafterin das Geld zusammenhalten musste.

Wenn wir heute durch unsere Städte gehen, so begegnen uns an vielen öffentlichen Plätzen und Wegen Menschen, die mit gesenktem Blick, oft sogar kniend um Geld betteln. Sind diese Menschen tatsächlich bedürftig oder wurden sie zum Betteln von anderen auf die Straße geschickt? Uns beschäftigt diese Frage immer wieder. Denn wir wissen, dass es Bettlermafias gibt. Sie rekrutieren Menschen und zwingen sie, sich als krank und äußerst hilfsbedürftig in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu betteln. Das Geld jedoch muss abgeliefert werden. Reich wird die Mafia. Der Bettler hat nichts davon.
Ob nun jemand Bettlern was gibt oder nicht, das muss schließlich jedoch jeder selbst und wohl immer wieder neu für sich entscheiden. Denn wer weiß es schon genau oder kann es erforschen, ob der Bettler wirklich bedürftig ist? Es könnte ja auch sein, dass unter ihnen ein tatsächlich Bedürftiger ist. Der empfindet ein solches Verhalten dann wohl nicht ganz zu Unrecht als hartherzig.

Hartherzigkeit, das ist wohl die dem Almosengeben entgegengesetzte Haltung gegenüber bedürftigen Menschen. Leider hat die Hartherzigkeit unter uns Menschen zugenommen – im Kleinen wie im Großen. Und sicher kann da jeder auch zunächst einmal „vor seiner eigenen Tür kehren“, ehe er auf andere zeigt.
Hartherzigkeit im Großen aber muss man benennen. Denn wie soll man denn das nennen, was sich uns weltweit zeigt? Im Internet kann man es nachlesen: Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. 821,6 Millionen Menschen hungern, 2 Milliarden leiden an Mangelernährung. Dabei gibt es genug Nahrung. Und es ist genug Geld da, damit mit Nahrung, aber auch mit Medikamenten usw. den Notleidenden geholfen werden kann. Denn wie soll man es anders sehen angesichts der erschreckenden Zahl, dass sich ganze 50% des gesamten Weltvermögens in den Händen von nur 42 Milliardären befinden? Und dieser Anteil nimmt weiter zu. Auch sie wissen von der Not und der Bedürftigkeit der Weltbevölkerung. Sie und viele andere Superreiche könnten Wirksames dagegen tun, könnten helfen – dauerhaft und nachhaltig. Natürlich ist bekannt, dass es sehr reiche Menschen gibt, die schließlich Milliarden an mehr oder weniger Bedürftige verteilen. Doch was ist das schon, wenn das Weltvermögen so krass einseitig verteilt ist? Sie könnten mehr geben, denn sie sind nicht die arme Witwe, von der Jesus erzählt, die ihre letzten beiden Scherflein hergibt (Lk 21,1-4).

Doch sich für die Armen und Bedürftigen einzusetzen, solidarisch mit ihnen zu sein und ihnen zu helfen, ist für die Vermögenden nicht eine besonders herauszuhebende Tat, in deren Schatten die kleinen Almosen der weniger Bemittelten einfach verschwinden. Denn der, der nur wenig hat, das Wenige aber mit anderen noch teilt, braucht nicht zu denken, dass das Wenige nicht helfen würde. Das Wenige ist vielleicht schon für andere so viel, dass die größte Not gelindert werden kann. Deswegen: Nach deinem Vermögen gib Almosen; auch wenn du nur wenig hast, scheue dich nicht, wenig Almosen zu geben.

 

[1]      WA Tr 2, 6468-647,7, Nr. 2769b