Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. (Ps 42,3)
Wir spüren sofort: Der das so sagt, dem geht es nicht gut. Aber was es genau ist, erfahren wir auch nicht, wenn wir Psalm 42 mit Psalm 43 im Ganzen lesen, die beide als Klagelied eine Einheit bilden. Wir erfahren von dem Beter, dass er sich, aus welchem Grund auch immer, an den Jordanquellen aufhält, fernab des Jerusalemer Tempels, in dem er zuvor zusammen mit vielen Gläubigen Gottes Gegenwart feierte und glücklich war. Nun jedoch, in der Ferne, meint er, Gott habe ihn vergessen, verworfen. Zudem wird er von Feinden verhöhnt und bedrängt. Auch wenn wir nicht mehr über ihn wissen als das, so können wir anhand des Refrains des Klageliedes erahnen, wie dreckig es ihm geht und er sich sehnt nach der Gegenwart Gottes im Tempel, nach glücklicher Geborgenheit bei ihm inmitten der feiernden Gemeinde. Der Refrain lautet: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht.

Meine Seele dürstet. Das hebräische Wort für Seele hat eine mehrfache Bedeutung. Hier ist es zu übersetzen mit „Leben“. So können wir diesen Satz wiedergeben mit: Mein Leben ist durstig. Nicht ich bin durstig, sondern mein Leben ist es. Leben ist hier mehr als das, was durch Essen und Trinken dem Lebensunterhalt dient.

Vor einigen Tagen hatte ich ein langes Gespräch mit einem fast 60-jährigen Mann, dem es materiell gesehen gut geht. Er erzählte, wie übel es ihm seit Jahren geht. Er zweifle am Verstand der Menschen, die größtenteils nur noch auf sich bedacht sind, an ihrer egoistischen Moral, an ihrer Unzuverlässigkeit, ihrer Abgestumpftheit vor allem gegenüber der inneren, aber auch äußeren Not, in der sich viele Menschen heutzutage befinden. Er verstehe die Welt nicht mehr, im Großen wie im Kleinen, in der es so sehr nur um Macht, Einfluss und Geld geht, wo kaum nach dem Wohl des anderen gefragt wird, wo man miteinander nicht achtsam, solidarisch und ihre Würde achtend umgeht, sondern aneinander vorbeilebt und man sogar gewaltsam, kriegerisch aufeinander losgeht. Wo es keine vernünftige Kommunikation mehr untereinander gibt, sondern jeder mit seiner Meinung Recht haben will und sich abgrenzt von Andersdenkenden, vielleicht sich sogar dann radikalisiert. Er verstehe den Staat nicht mehr, der seiner Meinung nach sein Machtmonopol missbraucht und zu wenig tut für den inneren Frieden und die Gerechtigkeit. Er sei vor Jahren an alledem fast zerbrochen und stellte sein Leben total um, um nicht „vor die Hunde zu gehen“. Jahre davor hatte er, der sogar Lektorendienste in der Kirche ausübte, durch ein sehr einschneidendes persönliches Erlebnis auch seinen Glauben an Gott verloren. Sich an ihn zu halten, das war dann keine Option mehr. Seither ist er ein Suchender in dieser Welt, um sein Leben einigermaßen zu stabilisieren. Er hoffe, so sagte er, dass ihm das wenigstens etwas gelingen werde. Aber es werde viel offen bleiben, womit er meinte, dass sein Durst nach einem Leben in friedlicher, gerechter Eintracht und Zugewandtheit und in Achtung und Respekt voreinander, wohl kaum gelöscht werden könnte. Dabei kamen ihm die Tränen.
Meine Seele dürstet. Oder: Mein Leben ist durstig; nicht: ich bin durstig. Sondern mein Leben ist es. Solches Leben umfasst viel mehr als nur Essen und Trinken, wie es das Gespräch mit dem Mann deutlich machte.

Doch der Satz des Psalmbeters geht ja noch weiter: Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Dessen Leben hatte Durst nach dem lebendigen Gott.
Wir können ganz unterschiedlichen Durst haben, nach ganz Unterschiedlichem lechzen, was den Lebensdurst stillen könnte. Der Mann, von dem ich erzähle, ist immer noch nach einem „Durstlöscher“ für sein Leben unterwegs, denn er selbst kann ihn sich nicht löschen, obwohl er es immer wieder versucht. Und wahrscheinlich ahnt er auch, dass es in unserer Welt keinen gibt, der seinen Durst nach einem solchen Leben stillen könnte.

Der Psalmbeter kennt einen, der den Durst nach einem Leben in Freude und Wonne, in glücklicher Geborgenheit stillen kann: der lebendige Gott, den er aus glücklichen Tagen am und im Jerusalemer Tempel kannte. Auch dieser Beter könnte ebenso wie der von Psalm 36 bekennen: Bei dir (Gott) ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. (Ps 36,10). Von diesem lebendigen Gott, der Quelle des Lebens, weiß sich das Leben unseres Beters abhängig, getragen und heilsam bestimmt (Ps 42,9).

Dass Menschen nach einem Leben lechzen, in dem sie umfassend geliebt und glücklich werden, Güte, Frieden, Gerechtigkeit und Geborgenheit erfahren können, das ist keine Ausnahme. Sondern ähnlich wie der Mann, über den ich vorhin erzählte, strecken wir alle uns nach einem so gefüllten, reich und glücklich machenden Leben, mal mehr, mal weniger. Mehr noch: Wir sehnen uns nach Heil, wo alles Destruktive und Lebensfeindliche, was wir in dieser Welt und in unserem Leben erfahren, überwunden ist. Wir finden es beim lebendigen Gott, der Quelle solchen Lebens. In Jesus Christus ist er uns heute gegenwärtig. Immer, wo wir sein heilsames Wort hören, seine Sakramente empfangen und annehmen, tritt er in unser Leben ein, um uns mit einem solchen Leben zu beschenken. Nicht alles wird dann zwar gut, nicht bei uns und um uns herum. Nicht in der Kirche und nicht in der Welt. Wir leben ja noch immer in der nichterlösten Welt. Aber als mit solchem Leben Beschenkte können Tränen trocknen, Leid getragen werden, kann neuer Lebenssinn gefunden und können Neuanfänge mit anderen Menschen in Frieden und Gerechtigkeit möglich werden. Denn beim lebendigen Gott sind wir und bleiben wir geborgen in seinem ewigen Reich. Dessen dürfen wir gewiss sein, so wahr Gott lebt. Und wenn es uns heute in unserem Leben nicht gut geht, so können auch wir in der Sehnsucht nach solchem Leben die Worte des Psalmbeters zu Gott beten: Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.