Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen! (Jes 5,20)

Wir merken sofort, der Prophet Jesaja kritisiert soziale Missstände, hier konkret im Umgang mit dem Recht. Über weitere Missstände, die es auch heute noch gibt und die zu sozialen Verwerfungen und zu sozialem Unfrieden führen, lesen wir bereits ab Vers 8 bis zum Ende des Kapitels. Hier ist es konkret die Beugung des Rechts – nicht nur vor Gerichten, die Verdrehung von Wahrheit und die Hinterlistigkeit und die Heuchelei im Umgang mit ihr – und dies alles, um des eigenen Vorteils willen. Der Geiz und die Gier machen korrupt, schädigen den Mitmenschen, gehen sogar auch über Leichen. Da wird Böses gut und Gutes böse dargestellt. Es werden Nebelkerzen gezündet, damit andere keinen richtigen Durchblick mehr haben. Dinge werden schöngeredet, die sich in Wahrheit für Betroffene schädlich auswirken. Und manches wird so schmackhaft gemacht oder auch so schlecht geredet, dass andere sich letztlich zum eigenen Schaden verführen lassen. Machtgier, Geldgier, Habgier, die Gier nach Ehre, nach Ansehen und Ruhm machen ungemein erfinderisch. Immer geht es dabei darum, sich einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Auf Beispiele kann ich getrost verzichten. Da hat jeder von uns genügend Erfahrungen damit gemacht. Die Medien sind täglich voll mit Berichten.


Aufgrund unserer sehr differenzierten gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber denen zu Jesajas Zeiten im ausgehenden 8. Jahrhundert vor Christus im Südreich Israels sind die Auswüchse jedoch noch weit einfallsreicher und vielfältiger als damals. Die Gier, der Geiz, der Neid, was auch immer zu Lasten und zum Nachteil unserer Mitmenschen, unserer Nächsten führt, die sind geblieben und treiben immer neue Blüten. Und dies alles nicht nur im gesellschaftlichen, politischen Rahmen, sondern selbst im ganz privaten Umgang miteinander – in der Familie, im Freundeskreis, unter Kollegen, in Vereinen. Und wir – und so ehrlich sollten wir da schon sein – wir sind da keineswegs von irgendeiner Art des Neides oder der Gier frei. Martin Luther z.B. hat vielmals und z.T. mit drastischen Worten darauf verwiesen (z.B. im Großen Katechismus, in seiner Schrift „Von den guten Werken“, in Predigten), welchen Schaden wir mit unserer Selbstbezogenheit, mit unserem Egoismus und im Streben nach unserem eigenen Vorteil, wie auch immer der aussehen mag, bei unseren Mitmenschen anrichten.

Viele Menschen ergreifen aus Mitleid mit den so Geschädigten oder Benachteiligten Partei für sie und helfen ihnen. Auch werden solche, die sich in ihrer Gier zum Nachteil anderer gebärden, oft kritisiert und manche auch juristisch belangt. All das ist gut und kann man nur unterstützen. Doch langt das alles? Langt eine sich an allgemeinen ethischen Maßstäben orientierende Sozialkritik?

Der Prophet kritisiert im Namen Gottes ab Vers 8 bis zum Ende des 5. Kapitels verschiedene Missstände und beginnt die jeweiligen mit dem hebräischen Wort hoj, das allgemein mit dem etwas schillernden deutschen Wort „weh“ oder „wehe“ wiedergegeben wird. So heißt es dann meist: „Weh denen, die …“ Auch Jesus, Gottes Sohn, gebraucht es oft. Wie aber ist dieses Wort zu verstehen? Wird mit ihm gedroht, etwa in dem Sinn wie „Wehe dir, wenn…, dann…“?

Das Wort hoj hat seinen Ursprung in der Leichenklage. Mit ihm wird dann allgemein ausgedrückt, dass einem bestimmten menschlichen Verhalten der Keim des Todes bereits innewohnt. Es wird beklagt, dass der Betroffene dem Tod ausgeliefert ist, obwohl eigentlich noch nichts darauf hindeutet. Es ist also kein Drohwort, sondern mit ihm wird das bevorstehende, unausweichliche Schicksal desjenigen mit dem Ausdruck des Bedauerns beklagt.
Wie kommt es zu einer solchen Klage und warum? Jesaja und auch andere Propheten sowie Jesus und viele, die an Gott glauben, sehen tiefer, „sehen“ mit den Augen Gottes und erkennen: Gierige, neidische, habsüchtige Menschen entsprechen nicht der Bestimmung, die Gott dem Menschen zugedacht hat – nämlich als seine Partner zu leben. Daher achten und lieben sie ihn nicht und ebenso nicht ihre Mitmenschen. Menschen, die so leben, verhindern demzufolge, dass Gottes Liebe den Nächsten erreicht, indem sie ihm in seiner Not nicht helfen, ihn in seinem Leid nicht trösten, von ihm Unrecht und Unfrieden nicht abwenden. Sie verweigern sich Gott, dessen Wesen Liebe ist. Stattdessen stürzen sie den Nächsten um des eigenen Vorteils willen oft sogar noch tiefer in sein Elend hinein. So stellen sie sich selbst ins Abseits des Lebens, das Gott uns Menschen zugedacht hat und verfehlen dieses Leben, das dem Wesen Gottes entspricht, also den Charakter der Liebe trägt. Im Abseits des von Gott zugedachten Lebens zu stehen heißt, den ewigen Tod zu sterben. Da jedoch der dem Menschen von Gott zugedachte und ihm zugemutete Charakter der Liebe unverbrüchlich gilt, kann der Mensch, solange er in dieser Welt lebt, umkehren zu Gott und kann im Glauben an Christus gewiss sein, dass er das Leben gewinnt und es nicht in der Gottverlassenheit und im ewigen Tod endet.

Was hier so allgemein und in geraffter Form über den Menschen gesagt ist, gilt auch jedem einzelnen von uns. Denn unser Leben ist keineswegs nur von Liebe bestimmt, sondern auch durchzogen von Lieblosigkeit, von Selbstbezogenheit, von Egoismus und von der Gier. Die Weherufe aus dem Mund des Propheten und von Jesus Christus sollen, so kann man es auch sagen, uns aufrütteln und zur Umkehr hin zu Gott bewegen, in dessen Liebe sich unser Herz öffnet zur Liebe hin zu unseren Nächsten. Und wir werden Gott loben und ihm danken, dass wir ihm nicht gleichgültig sind und er uns nicht ins Verderben laufen lässt, sondern in seiner großen Güte und Liebe uns nicht fallen lässt. Denn – mit Worten aus Ps 84 gesagt -: „Denn Gott der HERR ist Sonne und Schild; der HERR gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen. HERR Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!“