Seit einigen Monaten atmen wir wieder auf. Die Corona-Pandemie ist beendet, auch wenn immer noch Menschen daran erkranken und sterben. Doch die Bilder über die schrecklich vielen Toten und Schwersterkrankten, die überfüllten Krankenhäuser sind noch gegenwärtig. Hart traf es auch diejenigen, die durch die Kontaktverbote völlig auf sich allein gestellt waren: Vor allem ältere Menschen, die zu Hause, in Pflegeheimen oder Krankenhäusern keine Besuche mehr bekommen durften. Kindern und Jugendlichen fehlten die Freunde, Schulkameraden, Lehrer, Sportvereine usw. Die Not war oft sehr groß. Gott sei Dank aber gab es Menschen, die Ideen und Mut aufbrachten und sich als Hilfe anboten: zum Einkaufen, zum Musizieren vor den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Wohnblocks. Sie wollten etwas tun gegen die Not, die Einsamkeit und die Verzweiflung. Solidarität und Mitmenschlichkeit wurden in der Zeit großgeschrieben.

Mitmenschlichkeit auch bei den großen Flüchtlingsströmen, die hier in Deutschland ankamen und immer noch ankommen, wie z.B. aus der Ukraine. Menschen, die wegen Verfolgung und Krieg aus Angst um ihr Leben geflohen sind, die vertrieben wurden, Hunger und große Not litten und hier letzte Zuflucht gefunden haben. Um sie hatten sich hier viele Menschen aus Solidarität und Mitmenschlichkeit auf vielerlei Weise gekümmert.

Im Spruch für den Monat Mai heißt es: Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag. (Spr 3,27) Es geht auch hier, vereinfacht gesagt, um Mitmenschlichkeit. Meine Mitmenschen im Blick haben. Und sollten sie bedürftig sein, dann sollte ich ihnen nach meinen Möglichkeiten helfen. Prinzipiell wird wohl jeder Mensch da zustimmen. Wir wissen, dass kein Mensch ohne die Hilfe anderer leben kann. Wir brauchen einander, nicht nur manchmal mit praktischer oder finanzieller Hilfe, sondern auch sonst. Als soziale Wesen, können wir nur in Beziehungen leben, in sozialen Gefügen. Einsamkeit, Isolation macht auf Dauer krank und wirkt lebenszerstörend. Und niemand kann ganz allein im Leben zurechtkommen.

Wir brauchen einander. Auch wenn prinzipiell jeder zustimmen wird, so sieht es in der Praxis oft anders aus. Ich denke nicht nur an die Parolen mancher Politiker, die in die Welt hinausschreien, dass ihr Land, ihr Volk in allem zuerst zu bedenken sei. Politiker und ihnen Gleichgesinnte, die Menschen aus anderen Ländern, die aus Angst, Not und Leid Hilfe suchen, abweisen und allein lassen. Das ist in meinen Augen ein menschenverachtendes Verhalten, weil aus Selbstsucht und aus anderen Motiven heraus bestimmt wird, wem geholfen werden soll und wem nicht. Doch ich will nicht auf die große Politik schauen, sondern zuerst einmal auf uns selbst, auf unsere unmittelbaren Lebensbereiche. Wie sieht es denn da aus? Ich denke, prinzipiell nicht besser. Auch da wird ein solidarisches und mitmenschliches Handeln nicht jedem Bedürftigen entgegengebracht, sondern es wird auch hier ausgewählt, selektiert. Und manchen Bedürftigen lässt man, bildlich gesprochen, in der Pfütze liegen, anstatt ihm aufzuhelfen und sich um ihn zu kümmern. Unsere Solidarität und Mitmenschlichkeit ist nicht grenzenlos. Es erlahmen auch die Kräfte, wie sich in der Pandemie und bei den Flüchtlingsströmen nach einiger Zeit zeigte. Helfen und vom Eigenen etwas abgeben, das wird von vielen gern getan, aber nicht auf Dauer. „So weit geht die Liebe nun doch nicht“, höre ich oft sagen. „Ich habe ja noch ein eigenes Leben und eigene Bedürfnisse.“ So sind wir Menschen. Und daher ist es gut, an Solidarität und Mitmenschlichkeit immer wieder erinnert zu werden. Denn allzu schnell und allzu oft geraten die wirklich Bedürftigen aus den Augen, aus dem Sinn.

Aber warum finden wir denn dann so eine ethische Mahnung auch in der Bibel? Das muss doch einen Grund haben, oder nicht?
Auch die Menschen, die zu früheren Zeiten an Gott glaubten, haben Gott erfahren als einen Gott der Liebe. Dieser Gott der Liebe hat uns Menschen erschaffen als sein Ebenbild. Und das bedeutet, er hat uns erschaffen zu Menschen, deren Wesen ebenfalls von Liebe bestimmt wird, zu ihm und zu unseren Mitmenschen. Dazu sind wir als seine Geschöpfe bestimmt – zu einem Leben aus der Liebe und in der Liebe, die einem jeden zugedacht ist. Gott verleiht dazu individuelle Gaben und Fähigkeiten, damit sie ganz konkret auch zum Ziele kommen kann, nämlich unserem Mitmenschen, der unsere Zuwendung und Unterstützung braucht, um ihm wirksam helfen zu können. Denn auch sie sind seine Geschöpfe. Gottes Liebe soll auch durch uns bei ihnen ankommen.

Solche Liebe ist also nicht zu verwechseln mit Sympathie zu bestimmten Menschen, mit Geschwisterliebe, mit Freundschaft oder mit einem irgendwie gearteten Zusammengehörigkeitsgefühl z.B. in Vereinen. Sie ist mehr. Mehr auch als Solidarität und Mitmenschlichkeit, weil diese von vielen nicht mehr mit Gottes Liebe zusammengebracht wird. Sie nimmt selbst unseren Feind ernst mit dessen Ängsten, Sicherheitsbedürfnissen und Lebensinteressen, als wären sie die eigenen und lässt sie gelten. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter veranschaulicht uns Jesus, wie solche Liebe aussieht und wie weit sie geht.

Solche Liebe geht am Bedürftigen nicht vorbei, übersieht ihn nicht, sondern wendet sich ihm zu, hilft ihm, die Not zu überwinden, den Alltag zu bewältigen – egal, wer er bzw. sie ist, ob sympathisch oder abstoßend, woher er oder sie kommt, in welcher Kultur oder Religion sie oder er lebt. In solcher Liebe wird gegeben, soweit man es vermag bzw. dazu in der Lage ist.

Solche Liebe geschieht nicht aus Pflichterfüllung und endet nicht als erledigt, sondern hat ihre Quelle bei Gott. Sie wird aus seiner Liebe gespeist. Sie findet kein Ende, sondern erstreckt sich immer wieder neu auf Menschen, die uns als ihre Nächsten brauchen.

Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag. Wenn auch die Liebe Gottes hier nicht explizit zur Sprache kommt, so sind die weisheitlichen Sprüche des gesamten Buches der Sprüche Salomos schon in der Zeit, als sie niedergeschrieben wurden, längst religiös eingebettet gewesen. Der Mensch mit seinem rechten, klugen Verhalten ist eingefügt worden in die göttliche Weltordnung. Die „Frau Weisheit“, die hier spricht, wird zur Schöpfungsmittlerin und Weltordnungsexpertin und ist die den Menschen zugewandte Seite Gottes. Sie macht Gottes Willen erkennbar und lebbar.

Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag. Wie wir es verstehen sollen, bringt Jesus ein paar Jahrhunderte später so auf den Punkt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. (Lk 10,27)