Jesus Christus spricht: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet. (Mt 5,44f)

„Ein ganz schön starkes Stück, was Jesus da von uns fordert“, so empfinden wir es. Wir lieben gewöhnlich die, die uns ans Herz gewachsen sind, die uns sympathisch sind. Doch warum sollte ich den lieben, der etwas gegen mich hat? Dem geht man doch aus dem Weg. Mit dem will man nichts mehr zu schaffen haben. Dem muss man notfalls auch Einhalt gebieten. Den Freund lieben, den Feind hassen. Das ist die allgemein übliche ethische Richtschnur im Denken und Handeln unter uns Menschen.

Doch wer ist denn eigentlich mein Feind? Der Unsympathische, der Meckerer, der Kritiker, der mir Knüppel zwischen die Beine schmeißt, der mich klein machen oder demontieren will, der sich gegen mich stellt? Und kann denn auch ein ganzes Land, eine Nation als Feind bezeichnet werden, das einem anderen Land oder sogar einem, das mit ihm befreundet ist, mit Krieg droht oder es überzieht, wie es gegenwärtig Russland gegenüber der Ukraine tut und dabei auch Staaten der EU droht?
Jesus und in seinem Sinn auch Matthäus sprechen vom Feind in seiner ganzen Härte und Brutalität und denken dabei natürlich in erster Linie an „persönliche“ Feinde und an die, die gegen die Jesusanhänger bzw. die Gemeinde sind. Bei den Jesusanhängern und den Gemeinden drehte sich demzufolge alles darum, wie sie dennoch ihren Glauben an Jesus Christus der Welt bezeugen können und ihr Leben als Christen in ihrer alltäglichen Umwelt gestalten können, nicht jedoch, wie sie Politik mitgestalten oder gar verantworten könnten. Denn sie wussten sich geschieden von der Welt, die wenig oder gar nicht nach ihrem Gott fragt. Das änderte sich erst mit der konstantinischen Wende ab 313 n. Chr., mit der das Christentum sich bis hin zur Staatsreligion entwickelte. Dass auch ganze Nationen Feinde sein können, steht bei Jesus und Matthäus also nicht im Vordergrund, ist aber durchaus auch in diese Richtung zu deuten, zumal in V 44 der Blick auf „die Verfolger“, also auf solche, die Christen feindlich gegenüberstehen, gerichtet wird. Der Feind kann also nicht nur auf den persönlichen Bereich begrenzt werden.

Liebt eure Feinde! Können wir dieses Gebot Jesu überhaupt erfüllen? Ist es nicht eine utopische Forderung? Denn „lieben“ bedeutet, um das Wohlergehen des Feindes so besorgt sein, wie man für sein eigenes Leben sorgt. Es ist dabei also an konkrete Taten gedacht, nicht nur an eine entsprechende Gesinnung. Dass wir Menschen damit unsere Probleme haben, hatte häufig dazu geführt, die Feindesliebe zu mildern, um diese Forderung handhabbar zu machen. Damit wird sie jedoch - wie überhaupt die der Nächstenliebe - verwässert. Denn Jesus, der Gottessohn, führt uns mit dem Gebot der Feindesliebe Gottes Willen unverstellt vor Augen, der total und uneingeschränkt verwirklicht werden soll.
Solche Liebe ist also mehr als nur die Haltung, den Feind nicht zu hassen, z.B., indem ich den, der mir nicht ganz wohl oder gar feindlich gesinnt ist, ignoriere, einen Bogen um ihn mache oder darauf verzichte, ihm mit gleicher Münze etwas heimzuzahlen. An Jesus Christus ist sichtbar und spürbar geworden, dass nur wahre Liebe, die aus der Liebe Gottes kommt, zum Frieden und zum Wohl unter uns führt. Er hat Menschen ihre Sünden vergeben, hat Krankheiten geheilt, hat schließlich den größten Feind der Menschen, den Tod, entmachtet, hat seinen Anhängern Heil und ewiges Leben bedingungslos zugesagt sowie bei ihnen zu sein bis an der Welt Ende. So groß und vollkommen ist Gottes Menschenfreundlichkeit. Sie kennt keine Grenzen. Sogar über Böse lässt er die Sonne aufgehen und lässt auch über Ungerechte regnen und erweist ihnen so seine Güte (V 45). Solch grenzenlose Liebe sollen auch die Jesusanhänger aufbringen – unterschiedslos alle Menschen lieben nach dem Vorbild der Schöpfergüte Gottes (V 48), indem sie sich ganz konkret für ein friedliches und förderliches Miteinander zum Wohl aller Menschen einsetzen.

Aber noch einmal die Frage: Können wir diese Forderung der Feindesliebe überhaupt erfüllen? Können wir denn Gott in seiner Liebe so vollkommen nachahmen?
Eine erste Antwort: Jesus selbst gibt darauf keine Antwort. Ihm geht es um etwas ganz anderes. Er sieht, wie die Menschen, die seine Botschaft von anbrechenden Reich Gottes angenommen haben, froh und glücklich geworden sind. Der Grund: Sie hatten nun im eigenen Leben und Ergehen diese grenzenlose Liebe Gottes erfahren, die er gepredigt und gelebt hatte, und waren nun gewiss: Gott hat uns in seiner Liebe bedingungslos angenommen. Wir sind versöhnt mit ihm. Er ist unser Friede. Sie hatten bereits jetzt schon Anteil am anbrechenden Reich Gottes. So vertrauen sie nun auch darauf, dass Gott ebenso die Zusagen hält, die Jesus ihnen verkündet hat, nämlich dass Jesus Christus und somit Gott mit ihnen ist und sie durchs Leben führt, mag kommen was will, und dass sie in sein ewiges Reich aufgenommen werden und Gott an ihnen vollenden wird, was er bereits bei ihnen begonnen hat. Wer solche Freude und solches Glück darüber empfindet, der – so kann man im Sinne Jesu sagen - wird befähigt, das ansonsten Unmögliche, wie die Feinde zu lieben, zu tun. Er wird alles daransetzen, sich um das Wohlergehen seiner Mitmenschen – ob Freund oder Feind –so zu sorgen, wie man für das eigene Leben sorgt. Zu solcher Zuwendung gehört auch das Beten für sie.
Doch nicht jeder wird auf diesem Weg der Liebe gleich weit kommen, vielleicht sogar matt werden und sie aus dem Auge verlieren. Jesus und mit ihm Matthäus sieht das auch (z.B. Mt 7,21 und 24,12). Das Ziel, den uneingeschränkten Willen Gottes zu erfüllen, wird aber deshalb nicht verwässert oder verkürzt. Es muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden, um auf dem Weg dahin zu bleiben und nicht bequemere Wege zu suchen und auch nicht zu resignieren. Es soll jedem Christen als Leitbild seines Handelns dienen (V 48). Wir können es in Jesu Sinn so sagen: „Orientiere dich auch an diesem dir unmöglich erscheinenden Ziel der Feindesliebe, strebe danach und tue, was du kannst. Miteinander versöhnen, Frieden stiften (Seligpreisung in Mt 5,9), sich umeinander sorgen, das ist das Ziel. So ahmst du Gottes Menschenfreundlichkeit nach.“
Solche Liebe, die also auf Gott ungeteilt ausgerichtet ist und ihm darin entsprechen will, ist frei ist von egoistischen Absichten, z.B. um sich damit vor Gott etwas verdienen zu wollen. Solche Liebe, die dem Auftrag der geforderten Feindesliebe treu bleibt, wird belohnt, wie es Jesus sagt: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet. Der Lohn besteht in der Gotteskindschaft. Denn wer so handelt, ist wie ein Kind, das das Tun seines Vaters, seiner Mutter nachahmt. Offenbart wird die Gotteskindschaft jedoch erst im Endgericht. Da wird Gott das, was im Leben nach seinem Willen angepackt wurde, um ihn zu tun, bewahrt und vollendet.

Eine zweite, nun weiterführende Antwort auf die Frage, ob wir die Feindesliebe erfüllen können. Dabei nehme ich meinen vorherigen Gedanken noch einmal auf, dass das Christentum, beginnend mit der konstantinischen Wende, Staatsreligion wurde. Das ist es zwar heute nicht mehr, aber Christen gestalten heute in vielerlei Weise die Politik und das gesellschaftliche Leben mit. Da stellt sich, worauf ich eingangs schon einging, die Frage der Feindesliebe ganz neu, und zwar in vielerlei Facetten. Wer als Christ gesellschaftliche und politische Angelegenheiten mitgestaltet oder in sie involviert ist, steht oft vor einem Dilemma. Den Feind, den Gegner so zu lieben, wie es Jesus fordert, kann ihm ja Tor und Tür öffnen, um seine feindlichen Aktionen weiter auszuüben, Menschen weiter Gewalt anzutun, sie zu schädigen, zu massakrieren, Leid zuzufügen oder ihren Tod herbeizuführen durch kriegerische Handlungen, aber auch beispielsweise durch Ausbeutung der Schöpfung und Zerstörung der Existenzgrundlagen sogar der ganzen Menschheit.
Wie erhalten wir hier Klarheit? Jesus hatte nicht die Absicht, die Situation der Welt zu verbessern. Sie ist, wie sie ist, das Resultat unseres Handelns. Aber er hat eine Botschaft: Sie lautet: Versöhnung und Frieden mit Gott. Dann kann und dann soll Versöhnung und Frieden auch Mitte und Ziel allen Handelns der Christen in der Welt sein. Auf diese Weise wird, wo Christen mit dem Willen Gottes und besonders hinsichtlich der Feindesliebe ernst machen wollen, tragfähiger Frieden in die Welt getragen und kann Wirklichkeit werden – in allen Feldern der Politik. In diesem fundamentalen Sinn ist Feindesliebe unabdingbar. Jedoch auch da können wir in Jesu Sinn so sagen: „Orientiere dich auch an diesem dir unmöglich erscheinenden Ziel der Feindesliebe, strebe danach und tue, was du kannst.“
Viele christliche Politiker lassen sich eher von der Goldenen Regel leiten, die wie das Gebot zur Feindesliebe auch in der Bergpredigt bei Matthäus zu finden ist (Mt 7,12): „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Die Goldene Regel steht in engem Zusammenhang mit der Feindesliebe, wo sie Matthäus beim Schreiben seines Evangeliums vorgefunden hatte. Maßstab des eigenen Handelns soll all das sein, was man für sich selbst erhofft an Freundlichkeit und Zuwendung im Sinne der Liebe Gottes.

In Bezug auf die Friedensfrage nahm der 2007 verstorbene Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich v. Weizsäcker die Goldene Regel auf und entwickelte aus ihr die Vorstellung von einer intelligenten Feindesliebe. Er sagte 1980: „Intelligente Feindesliebe geht davon aus, dass der Friede nur zusammen mit dem Gegner erhalten werden kann.“ Sich also in die Lage des Gegners hineinversetzen, seine Interessen herausfinden und nach einem Interessensausgleich suchen.
Sie ist, wenn man so will, eine Übersetzung der ursprünglich radikalen Forderung Jesu in Richtung auf ein praktikables Handeln im politischen Bereich. Aber nicht nur da. Sie ist quasi ein Weg, auf der Basis von Jesu radikalem Gebot der Liebe vernünftige Perspektiven für unser Handeln aufzuzeigen und betrifft alle Bereiche und Situationen des Zusammenlebens der Menschen – also nicht nur das politische Handeln im engeren Sinn – ob Außen- oder Innenpolitik -, sondern auch das Handeln in allen Zweigen der Wissenschaften, in der Ökonomie, der Ökologie usw. Sie zielt nicht auf den Nutzen für den Einzelnen oder einzelner Gruppen und gar Länder, sondern auf das, was allen, wirklich allen zugutekommt: menschliche Würde, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Freiheit von Unterdrückung und Frieden sowohl in unserem eigenen Land als auch in der ganzen Welt. Unter einem solchen Vorzeichen sind Lösungen anzustreben, wenn man nur will. Dass dies in der gegenwärtigen, durch Kriege, Umweltzerstörung, Klimaschädigung und Machtstreben von Ländern und von anderen, global agierenden Playern zerrissenen Welt besondere Anstrengungen erfordert, sie aber kaum ernsthaft betrieben werden, brauche ich nicht weiter auszumalen. Wir erleben es täglich. Und es tut weh, auch wenn wir meist weniger unmittelbar betroffen sind. Deshalb ist Jesu Forderung, auch wenn sie uns utopisch erscheint, immer wieder der Welt und besonders uns Christen in Erinnerung zu rufen: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet.