Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist. (Ex 23,2)
Dieser Satz ist aus der Einheitsübersetzung der Bibel entnommen und lautet etwas anders als nach der Lutherbibel von 2017 und dem hebräischen Urtext. Er engt ein. Im Urtext lautet er übersetzt: „Du sollst nicht der Mehrheit folgen zum Bösen hin.“ Ähnlich die Lutherbibel: “Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen.“ Das Böse erschöpft sich nicht in einem unrechten Verhalten, zumal die Einschätzung, was unter uns als Unrecht gilt, ziemlich unterschiedlich ausfallen kann. Und es muss eine unrechte Tat nicht unbedingt immer etwas Böses sein, sondern kann auch dem Guten dienen, z.B. wenn ein Gesetz bewusst nicht eingehalten wird, um das Leben von Verfolgten und Unterdrückten zu schützen oder zu retten. Zudem kann das Böse sogar rechtlich legitimiert werden, wie z.B. die Rassengesetze im Dritten Reich. So werde ich mich nicht auf das Unrecht beschränken, sondern das Böse, das für Menschen und ihren Gemeinschaften letztlich Schlechte, Schädliche im Blick behalten.
Böses ist all das, was wir uns Menschen gegenseitig antun in einer gleichgültigen, lieblosen und somit verantwortungslosen Haltung oder was wir an Liebe und Zuwendung unterlassen. Das Böse wirkt somit immer auch gemeinschaftsschädigend oder gar -zerstörend. Denn es führt zu Unfrieden, Ungerechtigkeit und Verletzung der Menschenwürde jedes Betroffenen im Kleinen wie im Großen. Das aber soll nach Gottes Willen nicht sein. Sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament wird uns berichtet, dass Gott den Menschen schuf und ihn vorbehaltlos liebt. Er schuf sie als Menschen, die zu gleicher Liebe gegenüber ihrer Mitmenschen fähig sind, um auch sie vorbehaltlos lieben zu können. Das ist sein Wille. In dieser Weise ist deshalb jeder Mensch ein Spiegelbild Gottes. Jeder hat daher die gleiche Würde – unabhängig von der Hautfarbe, von der Gestalt des Körpers, vom Geschlecht und Alter, unabhängig auch vom Einkommen und der Herkunft und unabhängig selbst davon, ob er Gott kennt oder nicht, an ihn glaubt oder nicht. Jeder Mensch hat eine ihm innewohnende Würde. Und sie ist, da sie von Gott, dem Schöpfer kommt, unverlierbar. Unsere Erfahrungen jedoch zeigen: Die Wirklichkeit unseres Handelns und unseres Verhaltens gegenüber unseren Mitmenschen ist häufig anders. Es ist böse, was Gott nicht will.
Unser Monatsspruch ist ein Satz aus dem sogenannten Bundesbuch (Ex 20,22-23,19). In ihm geht es nicht nur um menschliche Rechtssetzungen, sondern darum, Gottes Willen zu erkennen und ihn zu tun. Hinter dem ganzen Recht und Gesetz steht Gott, der sich ein Volk erwählte, es rettete und befreite, nun aber auch in die Pflicht nahm, um seinen Willen zu tun. Das Recht, das seinem Willen entspringt, soll seinem Volk dienen und ihm helfen, dass alle in Frieden, Gerechtigkeit, Wohlstand und Freiheit leben können.
Im Speziellen gehört unser Monatsspruch zu einleitenden Worten für Regelungen zur Wahrung des Rechts vor Gericht, beschreibt aber ein Verhalten, dem jeder Mensch nach göttlichem Willen entsprechen soll. Im Alten wie im Neuen Testament geht es daher immer wieder darum, Böses nicht zu tun, ihm nicht nachzugeben, weil es eben zu Unfrieden, Ungerechtigkeit und zu Taten führt, die andere Menschen verletzen und ihnen Schaden zufügen, die somit auch das Zusammenleben erschweren oder gar unmöglich machen und nicht dem Wohl aller dienen.
Dem Bösen zu folgen, das gehört zur Geschichte der Menschheit. Der Menge folgen, die Böses im Sinn hat, mitmachen, was sie macht und ihre Haltung teilen. Das liegt uns Menschen eher als gegen den Strom zu schwimmen. Wer will denn nicht auf der Seite der vermeintlich Stärkeren und der Sieger sein? Das war auch in der Geschichte des Volkes Israel immer wieder ein Problem. Und so ist es überall noch bis heute.
Vor einiger Zeit erzählte mir ein Mädchen, wie sehr sie in der Schule gemobbt wurde, weil sie sich nicht an den Gemeinheiten gegen andere beteiligte. Man zeigte nicht nur mit dem Finger auf sie, sondern gab sich nicht mehr mit ihr ab und schloss sie aus. Das tat weh und baute großen psychischen Druck auf, dem sie kaum noch gewachsen war. Die Eltern sahen keinen anderen Ausweg mehr als den Wechsel in eine andere Schule.
Mobbing mit all seinen z.T. schlimmen Folgen für die Betroffenen kommt überall vor: in der Politik, den Parteien, Vereinen, Betrieben, in der Gesellschaft, sogar in Familien.
Ein anderes Beispiel: Es wird gern denen gefolgt, die Gutes versprechen, auch wenn es zur Ausgrenzung anderer führt oder sie gar ihre Menschenwürde kostet. Das wird alles billigend in Kauf genommen. Hauptsache nicht teilen zu müssen mit anderen, die, so wird es propagiert, doch erst einmal was zu leisten haben, wenn sie, die ohnehin keine Deutschen sind, schon mal im Lande sind. Seit Jahren nehmen wir wahr, wie die Masse der Anhänger, die so reden, wächst und wie das unsere Gesellschaft spaltet und Menschen, die anders denken oder anders sind, ins Abseits stellt. Für Gemeinschaften, für gesellschaftliche Systeme sind die Auswirkungen gefährlicher, als wenn es nur einzelne tun. Diese jedoch üben meist einen Sog aus auf andere. Das kann für Demokratien, in denen die vom Volk gewählten Vertreter die Herrschaft ausüben, zur ernsten Gefahr werden. Es kann Gesellschaften zerreißen und viel Leid bringen. Das alles kennen wir noch gut aus der Geschichte:
Eine Mehrheit wählte 1932 Hitler. Ihm jubelte sie zu und ging begeistert den Weg zum „totalen Krieg“ und zur Massenvernichtung der Juden mit. Das führte in die Katastrophe des eigenen Volkes und zu unsäglichem Leid bei Millionen von Menschen.
In der DDR wurden Andersdenkende als politische Gegner ausgegrenzt und kaltgestellt, ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt. Nicht wenige wurden weggesperrt und auch umgebracht. Die Mehrheit jedoch schwenkte ihre Fähnchen nach dem Wind dieses Regimes, ließ es gewähren, stützte es in der Hoffnung auf ihr Wohlwollen und gute Lebensbedingungen für sich selbst. Auch das ging nicht gut aus für den Staat DDR. Und für viele bedeutete das den bitteren Absturz und den oft mühsamen Aufbau einer neuen Existenz, wenn er denn überhaupt gelang.
Das Böse hat unendlich viele Spielarten, nicht nur im Großen, sondern besonders auch im Kleinen. Mobbing hatte ich bereits genannt. Aber auch jemandem kleine Nadelstiche verpassen, ihn verleumden, ihn klein machen, um sich selbst herauszustellen, Vertrauen missbrauchen und die ganze Palette von Straftaten usw. Und das Schlimme ist obendrein, dass das Böse viele Menschen fasziniert und sie versucht sind, es gleichzutun, und mitmachen. „Was regt ihr euch denn auf?! Es machen doch alle!“, wird oft gesagt.
Ich denke in dem Zusammenhang nicht ohne Schmunzeln auch an einen geflügelten Satz aus DDR-Zeiten. Walter Ulbricht hatte auf einem Parteitag der SED gesagt: „Aus unseren Betrieben ist noch mehr herauszuholen.“ Er meinte natürlich eine höhere Arbeitsproduktivität, um mehr Produkte zu erzeugen. Viele jedoch gebrauchten diese Aufforderung Ulbrichts anders. Wenn sie in den Betrieben Erzeugnisse, die ansonsten Mangelware waren, geklaut oder auf andere Weise für zu Hause abgezweigt hatten, rechtfertigten sie sich lächelnd untereinander: „Ja, Ulbricht hat doch dazu aufgefordert, aus den Betrieben noch mehr herauszuholen.“ Je höher die Position der Beschäftigten oder Funktionäre war, um so größer waren oft die Dimensionen.
Du sollst nicht der Mehrheit folgen zum Bösen hin. Gott will nicht, dass Menschen in Unfrieden leben, dass sie benachteiligt, ausgegrenzt, ausgebeutet und entrechtet werden und in Not und Elend leben müssen. Er will, dass wir da nicht mitmachen, wenn Menschen eher an sich denken und andere schädigen, sie würdelos und rechtelos behandeln. Gott will das nicht, selbst wenn wir uns einer Mehrheit Andersdenkender gegenübersehen und es für den einzelnen zu Konsequenzen führen kann, wenn er nicht mitmacht. Keine Frage: Das fällt uns oft nicht leicht. Aber es hilft den Menschen und hilft zum solidarischen Zusammenhalt überall dort, wo wir leben.