Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist (Jer 23,23)?
Oft wünschen wir anderen Menschen für den weiteren Lebensweg die Nähe Gottes, etwa zu Geburtstagen, Taufen, Trauungen und Jubiläen, besonders aber denen, die trauern, leiden oder aus verschiedenen Gründen niedergeschlagen sind. Wir möchten, dass sie ihn erfahren mögen als einen, der sie durchs Leben geleitet, sie stärkt und tröstet und bei dem sie geborgen sind. Wir wünschen ihnen das, denn im Leben vermissen wir Gott sehr oft. Er scheint uns fern und verborgen zu sein wie dem, der sich von ihm abgekehrt hat. Gott müsste doch nahe sein und alles in der Welt und im eigenen Leben zum Guten wenden.
Doch der Glaube an Gott bewirkt nach biblischem Zeugnis nicht die Aufhebung und Beseitigung aller Übel in dieser Welt. Den Glaubenden sagt Gott allerdings zu, dass sie darauf hoffen dürfen, dass er ihnen einen neuen Himmel und eine neue Erde geben wird (2 Petr 3,13). Da wird alles so sein, wie Gott uns Menschen und seine ganze Schöpfung haben will: heilig und vollkommen, recht und gut. Und alles Unrecht und alles Lebensfeindliche wird es dann nicht mehr geben, also auch keine Übel. Grund dieser Hoffnung ist Jesus Christus. Sein Weg, für das Heil der Menschen zu leiden und dafür sogar in den Tod zu gehen und alles Lebensfeindliche zu entmachten, offenbart diese Liebe Gottes zu uns Menschen, die also stärker ist als alle Mächte dieser Welt. Beweisbar ist sie, wie Gott selbst, allerdings nicht. So zweifelt auch der, der glaubt, oft an der Nähe und der Liebe Gottes wegen der Übel dieser Welt und in seinem Leben. Gottes Liebe kann er jedoch erfahren, indem er, wenn er das Evangelium, die frohe Botschaft Gottes, hört und er daraufhin „fühlt“ und spürt, dass diese Worte dem Herzen guttun und er im Inneren von deren Wahrheit umfangen ist (vgl. Martin Luther in: WA 10/I.1, 130,14ff). Wir haben es also in unserer unerlösten Welt nicht nur mit Gott zu tun, der uns nahe ist, sondern ebenso auch oft mit ihm, der uns fern, fremd, unverständlich und verborgen bleibt und an dem man verzweifeln kann.
Das ließ Gott auch durch den Prophet Jeremia verkünden, allerdings in einer anderen Situation. Jeremia verurteilte in den Jahren um 600 vor Christus unsoziales Handeln, wie Betrug, Rechtsbeugung, Habgier, Ausbeutung und Ehebruch, fehlende Bereitschaft, seinem Ruf zur Umkehr zu folgen. Zudem warnte er davor, sich weiterhin in falscher Sicherheit zu wiegen. Er wurde jedoch nicht ernst genommen, auch nicht von anderen Propheten, sondern verleumdet. Sie verkündeten sogar: Uns, dem erwählten Volk, kann nichts passieren. Gott ist doch auf unserer Seite. Das hat er uns verheißen. Uns wird es wohlgehen. Es wird kein Unheil über uns kommen. Unser Gott ist und bleibt uns immer nahe. Jeremias schleuderte ihnen im Auftrag Gottes entgegen: Was ihr verkündet, kommt aus der Bilderfabrik eures Herzens und nicht aus dem Mund Gottes (23,16). Sein Wort habt ihr nicht vernommen. Gott ist euch nicht nahe (23,18). Und dann verkündet Jeremia Gottes Fazit (23,23-29): Ich bin nicht nur ein Gott, der nahe ist, sondern auch ein Gott, der ferne ist. Ich erfülle Himmel und Erde. Mein Wort ist wie Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.
Für die Propheten, mit denen es Jeremia hier zu tun hatte, gab es keinen fremden Gott. Gott muss doch immer so sein, wie man ihn oft erfahren hatte: nahe bei seinem Volk, nahe bei den Menschen. Unmöglich, dass er sich verbirgt. Unmöglich, dass Jeremias Kritik an den sozialen Verhältnissen und an den Verantwortungsträgern im Land sowie sein Ruf zur Umkehr und seine Gerichts- und Zornespredigt überhaupt von Gott kommen kann. So ein ferner, zorniger und strafender Gott ist nicht der Unsrige. Jeremia führt uns auf den falschen Weg. So mögen diese Propheten gedacht haben.
Es war schon immer ein Trugschluss zu meinen, Gott müsse immer nur nahe sein. Immer wieder hören wir aus der Bibel, dass Gott auch anders ist: fremd und verborgen, den Menschen oft eine große Anfechtung, weil sie sich von ihm total verlassen vorkommen. Selbst Jesus hat diese totale Verlassenheit erfahren – am Kreuz. Hier empfand er wie wir die tiefe Ferne von Gott, seinem Vater. Dass Gott ihn nicht der Macht des Todes überlassen hat und sich zu ihm bekannte, darin erkennen wir, wie nahe uns Menschen Gott mit seiner bedingungslos sich erbarmenden Liebe zu uns kommt. Die, die Christus vertrauen, sind nicht verlassen und verloren. Sie sind in Gottes Hand – selbst im größten Leid und Tod und durch ihn hindurch an der Hand des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Gerade am Kreuz, da lässt sich Gott tief in sein Herz blicken. Da lässt er erkennen, dass er sich in der Tiefe vom Elend der Menschen anrühren lässt, auch wenn es um uns herum kracht und blitzt.
Gottes Wege mit uns sind oft schwer und undurchschaubar, nicht zu begreifen. Das macht uns besonders in heutiger Zeit mit all den Krisen und schlimmen Kriegen sehr zu schaffen. Viele haben Zukunftsängste und sind überhaupt sehr angefochten, weil sie den Gott, den sie gerne hätten – den lieben Gott –, nicht erkennen.
Über seine Wege mit uns sollen wir jedoch nicht verzagen. Denn – so verkündet Gott durch den Propheten Jesaja: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken (Jes 55,8f). Und Paulus bekennt: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege (Röm 11,33)!
Gott, der das Herz des Menschen für sich will und um sein Vertrauen wirbt, damit wir Frieden, Heil, ewiges Leben haben, ist nicht nur der liebe, handzahme Gott, wie ihn viele möchten. Auch in seiner Fremdheit und Ferne ist er für uns Menschen geheimnisvoll am Werk. So muss der einzelne Mensch, müssen ganze Völker und die Menschheit auch mit seinem heiligen Zorn rechnen. Das bezeugt nicht nur das Alte Testament, sondern auch Jesus und insgesamt das Neue Testament (Joh 3,36; Röm 1,18; 2,5; Eph 2,3; 5,6; Kol 3,6; Offb 15,7).
Daher sind all unsere Versuche, diesen Weg und Willen Gottes sowie sein Wirken zu relativieren, zu entschärfen und Gott nach Gutdünken des Menschen zurechtzubiegen, zum Scheitern verurteilt. Wir sind nicht gleichberechtigte Partner Gottes, sondern „nur“ seine Geschöpfe, die seinen Willen nicht immer erkennen, nachvollziehen und begreifen können und vor allem nicht akzeptieren wollen. Er verbirgt gar oft sein Ja zu uns unter seinem Nein und tut so, als „frag er nichts nach dir“ (EG 361,9). Aber der Mensch kann Gottes heilvolle Zusage und Gnade dankbar ergreifen wie ein Ertrinkender den Rettungsring. Denn seine Zusage, seine Gnade gilt ihm.
Sich Gott nach eigenem Gutdünken zurechtzubiegen, das tun wir Menschen oft. Gott wird dann zu einer Randfigur des Lebens gemacht, als fromme Verzierung für schöne Feste sowie als Notnagel in großer Verzweiflung. Aber sonst wird er aus allen Privatangelegenheiten herausgehalten. Viele möchten zwar, dass Gott ihnen nahe ist, aber sie möchten nicht, dass er ihnen zu nahe tritt und in ihr Leben hineinredet. Sie halten ihn auf Abstand und rücken ihn in die Ferne. Doch auch als der Ferne und Fremde nimmt Gott alles wahr, was sich auf Erden zuträgt, und wirkt in dieser Welt und bei den Menschen, wie es Jeremia im nachfolgenden Vers verkündet: Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Gott wohnt also nicht nur in unseren frommen Herzen und in der Kirche. Sondern er ist auch fern und hat einen weiten Horizont, der grenzenlos ist, weil er selbst grenzenlos ist.
Der Liederdichter Paul Gerhardt fasst dies alles in seinem Lied „Befiehl du deine Wege“ (EG 361) schön zusammen: „Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl. Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“