Spuren lesen, z.B. im frischen Schnee oder in weicher Erde oder an Erdlöchern und Höhlen, das kann nicht jeder. Aber man kann es lernen durchs Beobachten.

Wer ein Feld, eine Wiese oder auch nur einen Garten genau beobachtet, findet heraus, wie der Gärtner oder der Bauer mit dem Stückchen Land umgeht: roh, lieblos oder so sorgsam, dass auch in folgenden Jahren gute Erträge möglich sind.

Doch es gibt auch noch viele andere Spuren. Lesen wir sie, so nehmen wir z.B. wahr: Kein Haar auf unseren Köpfen gleicht einem anderen, kein Blatt an den Bäumen einem anderen, kein Tier dem anderen, selbst wenn es Zwillingstiere sind. Und dann: Pflanzen und Tiere ergänzen sich sogar. So hinterlassen z.B. die Tiere, die Pflanzen fressen, Dung. Aus ihm holen sich die Pflanzen ihre Nährstoffe zum Wachsen und für die Früchte. Alles ist miteinander verbunden zu Kreisläufen. Nichts existiert nutzlos, also nur für sich. Nicht die Fische, nicht die Pilze, nicht die Spinnen, Ameisen, Schlangen, Mäuse usw. Es ist ungeheuer interessant, sich da auf Spurensuche zu begeben. Da entdecken wir, wie gut und wohlgeordnet alles ist.

Der Mensch bildet da keine Ausnahme. Er ist letztlich abhängig von allem, was ihn umgibt, vor allem von anderen Menschen. Der genaue Blick dahin lehrt die Ehrfurcht vor dem Leben, lehrt die Ehrfurcht wegen der vielen wertvollen Zusammenhänge im Leben und lässt seine Kostbarkeit erkennen. Ja, das Leben ist kostbar. Wie viel zu einem gesunden und fröhlichen Leben gehört, merken wir meist erst, wenn wir krank sind. Gesundheit betrachten wir gewöhnlich als etwas Selbstverständliches, obwohl es in keiner Weise selbstverständlich ist. Der Blick auf Krankenhäuser, Labore, Hospize und Pflegeeinrichtungen macht uns das besonders bewusst.

Und schließlich: Wer die Augen offen hält, wird immer wieder Wunderbares und Kostbares in der Schöpfung entdecken. Denn offene Augen und geübte Ohren nehmen die Zusammenhänge wahr. Sie entdecken das Ganze. Und dann wird derjenige es schützen, wird staunen und verantwortlich damit umgehen. Wer diese Spuren in der Natur, in seinem Leben und in allem Leben um uns herum lesen und deuten kann, wird nach dem Schöpfer fragen, wird ihm dafür dankbar sein und wird Verantwortung übernehmen, damit Gottes Schöpfung nicht zerstört wird. Denn er erkennt, wie wahr die Erkenntnis in der biblischen Schrift „Klagelieder“ ist: Die Güte des HERRN ist´s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß (Klgl 3,22-23, der Monatsspruch).

Auch wenn in diesem Jahr unsere Ernte vor allem im Obstbau geringer ist als sonst und manchem große Sorgenfalten ins Gesicht treibt, so bleibt dieses Wort aufs ganze Leben betrachtet dennoch wahr. Gott bleibt uns auch in solchen Zeiten, in denen ein Mangel auftritt, mit seiner Güte treu. Wir müssen uns nur auf Spurensuche begeben. Mit wachen Augen, Ohren und Verstand werden wir gewahr, dass die Erde voll seiner Güter ist, die wir oft als ganz selbstverständlich betrachten und zu unserem Wohle nutzen.

Unter ganz anderen Verhältnissen mussten die Menschen damals in der Zeit, als die Klagelieder entstanden, leben. Unsäglich groß war die Not und bitter das Leid. Wer die „Klagelieder“ liest, wird erschrocken sein. In den fünf ergreifenden Liedern wird der Untergang Judas und Jerusalems und die Zerstörung des Tempels im Jahr 587 v. Chr. und die schlimme Not und das große Leid der Bevölkerung beklagt, unter der es durch die große Hungersnot sogar zum Kannibalismus kam. In der Klage der Poeten zu Gott erfuhren sie jedoch auch Antwort von ihm auf ihre quälenden Fragen, wie es 1. zur Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier kommen konnte, 2. wie alles Leid zu erklären ist und 3. was man nun noch hoffen darf. Die Antwort zu den ersten beiden Fragen manifestierte sich in der Erkenntnis: Es geschieht uns recht, dass Gottes Gericht so über uns kommt. Gott hat die Feinde Judas siegen lassen aufgrund unserer Schuld. Die Antwort auf die dritte Frage spendete ihnen Trost: Vertrauen und hoffen darf man jedoch trotz allem auf Gottes Güte und Gnade, weswegen man das Leid in dieser Hoffnung geduldig auf sich nehmen und tragen kann.

Das Buch „Klagelieder“ will mit dieser tröstlichen Perspektive den Menschen ihr Leid erträglich machen und tut es bis heute. Menschen, die Gott vertrauen, wissen selbst in ganz schwierigen Zeiten sich von Gott umfangen. Sie erkennen sich nicht nur als sündhafter Mensch vor Gott und dass er das alles nicht so ohne weiteres hinnimmt und dann manchmal auch unsere Geschicke so lenkt – sogar durch Leid und Not –, dass wir Einsicht über unsere bisherigen Wege gewinnen können, um zu ihm wieder zurückzufinden. Sondern sie erkennen dabei selbst in großem Leid auch Spuren seiner Güte, seiner Barmherzigkeit, seiner großen Treue und wissen, dass er sie nicht fallen lässt, mag da noch kommen, was will. Viele Menschen haben bis heute Gott schon so erfahren.
Der Anfang eines Gedichtes von Arno Pötzsch, einem bekannten, aber bereits 1956 verstorbenen Pfarrer und Dichter, lautet: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“. Arno Pötzsch war freiwillig als Soldat in den 1. Weltkrieg gezogen. Er kommt traumatisiert zurück und wird vor seinem Theologiestudium Sozialarbeiter in einem Kinder- und Jugendheim. Er hat erfahren: Wer Krieg erlebt, kann nur verlieren. Deshalb sagt er: Wir müssen junge Menschen früh innerlich so stark machen, dass sie nicht wieder auf die reinfallen, die zu Spaltung im Volk und zu Gewalt aufrufen. Eine sehr ernstzunehmende Botschaft – höchst aktuell gerade auch heute wieder. Und so beginnt Pötzsch, Kirchenlieder zu dichten. 1941 verfasste er als Militärpfarrer in den Niederlanden das o.g. Gedicht. Im Evangelischen Gesangbuch finden wir es unter der Nummer EG 533. Der Text lautet:

Du kannst nicht tiefer fallen
als nur in Gottes Hand,
die er zum Heil uns allen
barmherzig ausgespannt.

Es münden alle Pfade
durch Schicksal, Schuld und Tod
doch ein in Gottes Gnade
trotz aller unsrer Not.

Wir sind von Gott umgeben
auch hier in Raum und Zeit
und werden in ihm leben
und sein in Ewigkeit.

Von diesen Worten geht viel Trost aus. Wir können im Leben fallen, manchmal auch tief. So kann es jedem einzelnen von uns ergehen. Ob aus eigener Schuld, als Opfer von Umständen oder einer Mischung von allem. Am Ende aber ist da einer, der auffängt und wieder aufrichtet. Gottes Hände fangen auf.

So ähnlich müssen auch damals fromme Menschen in Juda empfunden und Gewissheit erlangt haben. Einer von diesen poetisch veranlagten drückte es so aus: Die Güte des HERRN ist´s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.