„Vorfreude, schönste Freude.“ Wer in der ehemaligen DDR wohnte, weiß, dass dieses Advents-Kinderlied sehr beliebt war und nicht nur von Kindern gesungen wurde. Auch meinen Kindern musste ich fast täglich die Schallplatte mit dem Lied auflegen. Dann sangen sie mit und waren voll freudiger Stimmung und Erwartung der kommenden Tage und Ereignisse bis hin zu Weihnachten.

Die Vorfreude ist tatsächlich die schönste Freude. Denn frohe Erwartung macht glücklich, der danach beginnende Alltag nicht immer. Vorfreude – wir wissen es – ist eine Freude ohne Verfallsdatum. Die Erfüllung eines Wunsches dagegen macht höchstens drei Wochen glücklich, sagen Glücksforscher. Danach haben wir uns daran gewöhnt und pendeln uns wieder in unsere gewohnte Stimmungslage ein. Selbst große Lottogewinner machen diese Erfahrung.

Auf was freuen Sie sich zu Weihnachten? Welche Erwartungen haben Sie? Schön, wenn Sie sich auf Festtagsbesuch freuen, auf ein Zusammenkommen mit Kindern, Enkelkindern, Eltern usw., vielleicht sogar auf einen festlichen Gottesdienst an Heiligabend. Doch ich kenne auch viele Menschen, die kaum noch etwas von Weihnachten erwarten, was sie mit Freude erfüllen könnte. Auf die Weihnachtsleckereien gibt es schon keinen Appetit mehr, weil sie seit September schon angeboten, gekauft und natürlich auch verzehrt und genossen wurden. Allenfalls richten sich die Wünsche und Erwartungen vielleicht auf ein günstiges Angebot für einen lang gehegten Urlaubswunsch oder auf die Verwirklichung des Traums von einer Eigentumswohnung. „Eigentlich habe ich doch schon alles. Was brauche ich denn noch? “, sagen auch manche. Es ist meist so: Je weniger krass die gegenwärtige Lebenslage im Vergleich zu einem erwarteten Ereignis ist, umso geringer wird auch Vorfreude empfunden. Ja, wir können uns fast alles leisten. Aber glücklicher werden wir nicht. Denn echte Vorfreude ist ja noch einmal etwas ganz anderes. Sie entsteht, wenn man von einem zukünftigen Ereignis, das man allerdings nicht selbst herbeiführen kann, weiß, es als positiv einschätzt und auch glaubt, dass es eintritt. Unter diesen Bedingungen stellt sich automatisch das Gefühl der Vorfreude ein.
Allerdings unterscheiden wir Menschen uns sehr stark darin, was wir als positives Ereignis in der Zukunft ansehen und mit welcher Gewissheit wir es erwarten. All das bewirkt, wie stark wir echte und anhaltende Vorfreude empfinden.

Im alltäglichen Leben verlieren wir oft den Blick für das Wohin unseres Lebens. Da machen wir uns mehr oder weniger kaum Gedanken darüber, ob es zukünftige Ereignisse gibt, die erstrebenswert sind, um sich auf sie auszurichten. Und oft drohen sie auch in den gegenwärtigen Lebensumständen zu verblassen. Da brauchen wir mitunter jemanden, der uns an kommendes Positives erinnert, wachrüttelt und uns nahelegt, uns darauf auszurichten und einzustellen. Gelingt das, dann zieht das Gefühl der Vorfreude in die Herzen ein.

Das wusste auch ein namenloser Prophet, dessen Worte wir im Jesajabuch in den Kapiteln 56 bis 66 finden. Er wirkte um das Jahr 530 vor Christus in Juda-Jerusaelm. Die große Wende zu heilvollen Zuständen im Land, wie sie denen, die in Babylon im Exil lebten, vorher verkündet wurde, trat so nicht ein. Tiefe Enttäuschung hatte sich unter den Juden breit gemacht. Ihre Lage war ärmlich und dürftig. Und sie wurden von der in Juda und Jerusalem ansässig gewordenen Mischbevölkerung bedrängt. Wirtschaftliche Not, politische Unsicherheit inmitten eines immer noch in Trümmern liegenden und verwüsteten Landes und der Stadt Jerusalem lasteten schwer auf ihnen. Sie fühlten sich von Gott verlassen und litten darunter als das von Gott erwählte Volk.
Ihnen verkündete der Prophet: Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir! (Jes 60,1 – Spruch für diesen Monat.)

Der Prophet spricht vom Licht, das kommt. Und er meint damit Gott selbst. Das kommende Licht, es ist ein altes, charakteristisches Bild im AT für Gottes Erscheinen. Jeder Israelit wusste das. Das Licht steht für Leben gegenüber der Finsternis und Dunkelheit, beide ein Bild für den Tod und Untergang. Der Prophet gibt der Gemeinde in Juda-Jerusalem zu verstehen: Weil Gott, dein Licht, zu dir kommt, steh auf, erhebe dich aus deinen finsteren Verhältnissen und werde licht, d.h., strahle vor Freude. Sein Erscheinen gleicht dem Aufstrahlen eines Gestirns. Licht in finsteren Verhältnissen. Es bleibt nicht so wie es ist. Da wird alles anders – wunderbar bewirkte Wandlung der jetzt bedrückenden und notvollen Lage in ihr ganzes Gegenteil. Grund, sich schon heute darauf zu freuen!
Wie kann man verstehen, sich schon jetzt darauf zu freuen? Der 1941 verstorbene indische Philosoph und Brückenbauer zwischen den Religionen Rabindranath Tagore schrieb einmal: „Glaube ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ Wir wissen es, unsere Singvögel sind schon munter, bevor es hell wird, und pfeifen ihr frühmorgendliches Lied schon vor dem ersten Sonnenstrahl. Sie singen auf den Morgen zu und in das Licht hinein, das noch auf sich warten lässt.
Und in einem alten Weihnachtshymnus heißt es: „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. Die Mitte der Not ist der Anfang des Lichts.“ Noch Nacht, kommt der neue Tag schon auf uns zu. Noch Not, kommt das Licht auf uns zu, auch wenn sie uns noch umfängt.

Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir! Die Christenheit hat von Beginn an in dem aufgehenden Licht Jesus Christus erkannt. In ihm kam und kommt auch noch heute Gott und damit die göttliche Kraft, die Licht und Leben schafft. Schon die Erzählungen über seine Geburt und auch seinen Tod und Auferstehung künden davon:
Inmitten der Nacht und Not damals in Bethlehem, als die junge Mutter und ihr Mann einen Raum suchten, um die Kälte, die Lieblosigkeit und die Gefahr hinter sich zu lassen, als die Hirten bei ihren Herden lagerten, draußen, nicht behütet, wird es licht. Der Engel Gottes erscheint. Er befreit die Hirten aus dem Selbstgespräch über ihre mühsame Lage und weitet den Horizont. „Der Tag beginnt doch schon, die Macht der Finsternis ist gebannt. Wendet die Blicke weg von Euch, zum Licht, zum Kind, auf das das Licht fällt. Und seht im Kind das Neue, den Beginn neuen Lebens, wo ihr nur noch das Alltägliche sehen könnt, das Gewohnte.“
Jesus am Kreuz. Er spürt schmerzlich die Gottverlassenheit. Todhauchende Finsternis auf Golgatha über den Menschen. Am dritten Tag, mitten in der finsteren Grabstätte Jesu, ein lichtstrahlender Engel, der den tieftraurigen Jüngerinnen und Jüngern seine Auferstehung verkündet. Die Macht der Finsternis und des Todes ist gebrochen – der Beginn neuen Lebens mitten im alltäglich Gewohnten, Leid, Not und Trauer. Freude breitet sich aus.

Und wir hier und heute? Wir erleiden auch finstere Nächte und bedrückende Nöte, wie auch immer sie heißen: Krankheit, Ausgrenzung, Argwohn, Missgunst, Feindschaft usw. Das lässt sich nicht so ohne weiteres abschütteln, sondern nimmt uns die Freude am Leben. Auch sind viele gegenüber Versprechungen auf Besserung skeptisch und misstrauisch geworden. Denn es gab und gibt zu viele Enttäuschungen, z.B. durch die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Blühende Landschaften kamen nach der Wende nicht, eher trat zunächst das Gegenteil ein. Politische Entscheidungen brachten nicht die erhofften Effekte, die dem Wohle aller dienen, sondern verschärfte die Lage zahlreicher Menschen. Viele fühlen sich überfordert, können nicht mehr, resignieren, haben keine Hoffnung mehr auf Besserung. Bitternis erfüllt ihre Herzen. Freude bleibt aus. Auf was können sie sich denn noch freuen, wenn am Ende des Tunnels kein Licht zu sehen ist?

Ist denn wirklich kein Licht da? Die Botschaft des Propheten „Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“ und die Weihnachtsbotschaft widersprechen. Dass trotz dunkler Nacht, die uns manchmal umgibt, das Licht des neuen Tages im Kommen ist, das ist Gottes Versprechen an uns – auch heute. Es bleibt nicht alles so, wie es ist. Nicht heute und erst recht nicht, wenn Jesus Christus, der das „Licht des Lebens“ ist (Joh 8,12), wiederkommt und Gott unser Leben herrlich vollendet. Und deshalb können wir mit dem Blick auf das kommende Licht jetzt schon aufstehen und diesem neuen Tag entgegensehen und entgegengehen.