Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken (Lev 19,33, Monatsspruch).
Wenn wir diesen Satz hören oder lesen, denken wir fast unwillkürlich an die vielen Ausländer, die in Deutschland und Europa, aus welchen Gründen auch immer, seit Jahren Asyl suchen. Wir haben die anfänglich überwältigende Willkommenskultur vor Augen, werden nun aber auch mit vielen Problemen konfrontiert, auch weil die politischen Rahmenbedingungen nicht stimmen, um all die Asylsuchenden und Migranten menschenwürdig in Deutschland und Europa aufzunehmen und zu integrieren. Dazu gesellt sich ein Klima des Hasses gegen sie und gegen alle, die sich für sie einsetzen, gewollt und geschürt von Menschen mit rassistischem und faschistischem Gedankengut. Christen, Juden und alle, die die Würde eines jeden Menschen uneingeschränkt achten, muss das sehr beunruhigen und Sorge bereiten.
Aber nicht erst dann, wenn Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ausgegrenzt und unterdrückt werden, ihnen mit Hass begegnet wird, ihnen Gewalt bis hin zur physischen Vernichtung angedroht wird, wird ihnen die Freiheit zur Selbstgestaltung ihres Lebens beschnitten. Dies geschieht bereits schon, wenn sie „bedrückt“ werden, so die genauere Wiedergabe des hebräischen Wortes im Monatsspruch. Gemeint ist, wenn sich ihnen gegenüber so verhalten wird, dass sie in Unterdrückung geraten. Das beschneidet ihre Freiheit, die jeder Mensch von Gott hat.
Christen wie Juden wissen, dass Gott, der die Menschen liebt, als freie Menschen geschaffen hat, um in Liebe zu ihm und zu den Mitmenschen als sein Repräsentant seinem Willen gemäß die Welt und das Leben produktiv und schöpferisch zu gestalten. Dazu hat ihm Gott die nötige Freiheit gewährt. Ohne Freiheit wäre der Mensch nicht zur Liebe fähig. Denn unter Unfreiheit und Zwang kann Liebe weder entstehen noch gedeihen. Das wissen wir alle. Und ohne Freiheit wäre der Mensch zu einer Gestaltung der Welt und des Zusammenlebens in ihr in Frieden, Gerechtigkeit und zum Wohlergehen aller nicht fähig. Auch das wissen wir alle. In der von Gott gewährten Freiheit, ihn und die Menschen zu lieben, darin liegt die Bestimmung eines jeden Menschen, ob derjenige von Gott weiß oder nicht oder an ihn glaubt oder nicht.
Allerdings wird der Mensch seiner Bestimmung nur unzureichend gerecht. Er missbraucht die gewährte Freiheit zur Herrschaft über andere, was die zwischenmenschliche Liebe erstickt und ein friedliches, gerechtes und liebevolles Miteinander zum Wohle aller oft verhindert, stört oder gar zerstört. Und nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Mensch –auch wenn dies mit Nächstenliebe nur indirekt zu tun hat – die gewährte Freiheit auch in Bezug auf die Schöpfung missbraucht, indem er rücksichtslos mit der Natur umgeht und die Umwelt durch kurzsichtige Interessen und durch unbesonnenes Handeln bedroht und damit seine eigenen Lebensgrundlagen gefährdet.
Doch bei alledem soll es so nicht bleiben. Wie unser Zusammenleben aussehen soll und aus welchem Grund, das lesen wir im Vers nach dem Monatsspruch: Der Fremdling – die Bezeichnung Schutzbürger trifft dessen „Status“ genauer – soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.
Gott erinnert sein Volk an dessen Freiheit, die die Israeliten in ägyptischer Knechtschaft von ihm geschenkt bekamen: ihre Befreiung aus der Knechtschaft, ihre Erwählung als sein heiliges Volk, ihre Begleitung in existenziell bedrohlichen Situationen. Diese Beziehung Gottes zu Israel mit all seiner Zuwendung und seinen Rettungstaten ist Ausdruck seiner Liebe, die nur auf das Gute ausgerichtet ist: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlergehen zu einem erfüllten und glücklichen Leben. So fordert Gott immer wieder neu auf zur Solidarität und Nächstenliebe, ebenso durch Jesus Christus, seinen Sohn, der die Feindesliebe mit einschließt. In seiner Person wurde die Liebe Gottes sogar gegenwärtig und erfahrbar und wird uns auch heute noch durch den Heiligen Geist vermittelt. Eine solche Liebe immer wieder selbst zu üben, sie in die Welt zu tragen und die Mitmenschen zu solcher Liebe anzustecken und zu bewegen, das ist Juden wie Christen, dem alten wie dem neuen Gottesvolk, aufgetragen. Alle Menschen sollen in Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und in Wohlergehen leben können.
Wer vom biblischen Gott nichts weiß oder wissen will und auch nicht an ihn glaubt, hat allerdings hinsichtlich der Liebe zum Mitmenschen – ich will es mal so ausdrücken – seine „Musikalität“ nicht ganz verloren. In einer Diskussionsrunde während eines Kirchentages ging es um die Nächstenliebe. Da meldete sich eine Frau zu Wort, die nicht zur Kirche gehörte, jedoch sich aufopferungsvoll um viele Menschen am Rand der Gesellschaft kümmerte. Sie gewann den Eindruck, so sagte sie, dass unter Christen ihre Liebestätigkeit für die betroffenen Menschen als geringer angesehen werde wie die von Christen, nur weil sie eben nicht an Gott glaubt. Und dass, so ergänzte sie, ihr von manchen sogar ein ungefragtes und übermäßiges Helfen aus eigennützigen Motiven untergeschoben werde. Und das tue weh. Relativ schnell bestand Einigkeit darin, dass es das tatsächlich gibt, dass nicht überall, wo Liebe draufsteht, auch Liebe drin ist. Erst nach einer längeren Diskussion konnte dann auch darüber Klarheit gefunden werden, worin der Ursprung und der Grund der Liebe zu den Mitmenschen bei denen liegen könnte, die nicht an Gott glauben. Aus der Tatsache, dass jeder Mensch zur Liebe befähigt ist, ist nämlich zu schließen, dass in ihnen ein Widerschein der Liebe, die ihre Ursache und ihren Grund bei Gott hat, zu finden ist, auch wenn sie selbst das als Nichtchristen nicht so sehen (können). Deshalb machen sie die Ursache und den Grund ihrer Liebe woanders fest, z.B. im Verweis auf die eigene Veranlagung zur mitmenschlichen Liebe oder im Bewusstsein einer allgemein menschlichen Verpflichtung dazu oder auch, indem ihnen philosophisch-weltliche Ethiken (z.B. Kants kategorischer Imperativ) sinnvoll erscheinen usw. Wie auch immer da gedacht wird, in alledem äußert sich die Liebe zum Mitmenschen als ein Widerschein der Liebe, die ihre Ursache und ihren Grund bei Gott hat. Denn jeder Mensch ist zur Liebe befähigt.
Jeder Mensch ist zur Liebe befähigt. Dass er in ihr auch tätig wird und tätig bleibt, ist, wie wir wissen, nicht selbstverständlich, sondern bedarf stets der Erinnerung und Aufforderung, wie z.B. mit dem Monatsspruch in Bezug auf die Fremden im Land und generell in Bezug auf jeden Nächsten, wie es Gott wenige Verse davor (V 18) fordert und von Jesus wiederholt wird: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Mt 22,39).
Doch wer ist denn der Nächste? Viele meinen, das könnte die Gesamtheit aller Menschen sein. Das kann ich nicht erkennen. Denn es geht um den mir nahen Menschen. Es geht um den, der sich innerhalb der Reichweite eines anderen Menschen, der zur Liebestat in Betracht kommt, aufhält. Das kann der Nachbar sein, der Freund, der Mitchrist, ein Fremder, Asylant, Migrant, jeder, dem ich persönlich direkt oder indirekt auf irgendeine Weise helfen kann. Selbst mein Feind, der mich verflucht, verfolgt und vielleicht sogar mir nach dem Leben trachtet, auch der kann mein Nächster sein.
Was aber folgt daraus? Den Nächsten zu lieben und eben auch einen Fremden, einen Schutzbedürftigen, nicht zu bedrücken, kann nicht auf die Institution Staat abgewälzt werden. Wohl aber muss für den Staat gelten, dass seine Rechtsordnungen der mitmenschlichen Liebe zu dienen haben. So sehe ich z.B. eine Aufgabe des Staates darin, solche Rahmenbedingungen für seine Bürger zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, dass ihre Liebe zu den Nächsten, also auch zu den Fremden, tatsächlich zum Ziel kommt. Eine weitere Aufgabe für den Staat sehe ich darin, die Zuwanderung so zu steuern, dass keinem die Hilfe versagt werden muss, die er benötigt, nur weil sie nicht mehr geleistet werden kann. Diesbezüglich ist jedoch noch vieles im Argen. Es gibt keinen Tag, an dem in den Medien nicht berichtet wird über unhaltbare und z.T. auch menschenunwürdige Zustände in Kommunen, in den Asylunterkünften, den Bildungseinrichtungen, in der Wirtschaft und überhaupt im gesellschaftlichen Leben. Und es gibt kaum einen Tag, an dem wir nicht davon erfahren, dass die Kräfte und Möglichkeiten derer, die sich um die Hilfebedürftigen kümmern, nicht mehr ausreichen. Dies ist sicher einer der Hauptgründe dafür, dass ein Klima des Hasses, in dem sich auch rassistisches und nazistisches Gedankengut breit macht, um sich greift. Das alles soll nach Gottes Willen nicht sein. Wir brauchen mitmenschliche Liebe untereinander, damit auch der Fremde leben kann wie wir.