Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Ein kurzer, knackiger Satz Jesu, der – so werden wir es noch sehen - es in sich hat.
Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Auf einem Felde hält er seinen Jüngern und einer großen Volksmenge aus nah und fern eine Rede. Sie stimmt in großem Umfang mit der Bergpredigt im Matthäusevangelium überein. Sein Satz „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ hat darin gewissermaßen eine zentrale Stellung.

Was Barmherzigkeit bedeutet, ist uns nicht fremd. Sie ist eine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur. Sie gehört zum Wesen des Menschen dazu. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an. Ein Mensch ohne ein Fünkchen Barmherzigkeit wäre kein wahrer Mensch. Damit ist aber noch nichts ausgesagt darüber, welchen Stellenwert sie überhaupt im Handeln des Menschen haben soll. Darüber gab und gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. In der griechischen Philosophie wurde die Barmherzigkeit im sittlichen Handeln im Allgemeinen nicht besonders hervorgehoben. Immanuel Kant lehnte sie als sittlich minderwertig ab, bejahte aber „tätiges und vernünftiges Wohlwollen“. Friedrich Nietzsche meinte, als weichlicher Selbstgenuss vermehre sie nur das Leiden in der Welt. Friedrich Hegel hält sie für unbedeutend, denn Wohltun sei Aufgabe des Staates. Karl Marx sieht sie wie die Mildtätigkeit als Kumpanei mit den Herrschenden und Ausbeutern.

Und heute? Der moderne, autonome Mensch will nicht auf Barmherzigkeit angewiesen sein und setzt daher auf einen starken Sozialstaat. Der soll ein menschenwürdiges Leben und somit auch ein irgendwie barmherziges Zusammenleben aller garantieren. Dass das nicht klappt, erfahren wir täglich. Nicht nur, weil beispielsweise die Weltgemeinschaft nicht in der Lage und z.T. auch nicht willens ist, den Hunger weltweit zu bekämpfen und die Not von Flüchtlingen und Betroffenen in Kriegsgebieten zu lindern. Sondern auch, weil selbst in unserem reichen Land die Zahl der Obdachlosen, Armen und derer, die auf die Tafeln angewiesen sind, stetig wächst. Und auch nicht alle Formen der Not können staatlicherseits beseitigt werden. Zudem sind die Maschen des staatlichen Netzes leider viel zu weit geknüpft, um jeden Menschen aus seiner Not heraushelfen zu können. Spontane, freiwillige Hilfsbereitschaft bleibt deshalb unersetzbar, ob sie von Einzelpersonen oder von den zahlreichen Ehrenamtlichen in Kirchen, der Diakonie, Vereinen, Stiftungen usw. geleistet wird. Wir erleben das gerade jetzt, Ende des Jahres 2020, Anfang von 2021, besonders eindrücklich. Der Staat gibt Milliarden von EURO zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie aus. Doch das langt nicht. Geld ist auch nur bedingt geeignet, der Angst, der Not, dem Leid und der Vereinsamung der Menschen wirksam entgegenwirken zu können. Gott sei Dank haben sich bei so vielen Menschen die Herzen für die Not der anderen geöffnet. Sie stehen ihnen bei und helfen, auch ohne dafür bezahlt zu werden. Und der Blick in ihre Gesichter und Augen verrät, wie gut das ihnen tut – auch im Herzen.
Im Grunde genommen tun wir Menschen uns mit der Barmherzigkeit jedoch immer schwer und missbrauchen sie sogar. Beispielsweise werden unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit Eigeninteressen unbarmherzig verfolgt, Menschen erniedrigt und über sie Macht ausgeübt. Appelle, wirklich barmherzig zu sein, fruchten selten. Auch das ist unsere Erfahrung. Ja, wir ertappen uns dabei manchmal selbst dabei, fremde Not übersehen und Hilfe unterlassen zu haben.

Und wie sieht Jesus das? Nachdem er seinen Zuhörern beispielhaft gesagt hatte, wie barmherziges und den Nächsten liebendes Handeln aussieht, begründet er solches Handeln mit den Worten: Ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Martin Luther hat diese Worte Jesu in einer Predigt so umschrieben: „Wollt ihr Christen sein, so denkt, dass ihr barmherzig seid, und so barmherzig, wie euer Vater ist, sonst könnt ihr nicht seine Kinder, noch meine Brüder sein, der ich euch mit meinem Blut von Sünden und Tod erlöst habe. Denn das müsst ihr alle bekennen, dass ihr eurem Gott und Vater im Himmel alles Leid und viel Verdruss getan habt, und seine Gebote nicht gehalten, ja, alle übertreten habt, so hätte er Ursache genug zu sagen: Sollte ich meinen Sohn für solche bösen Buben geben? Zum Teufel mit ihnen, in den Abgrund der Hölle; denn sie fürchten, lieben und Vertrauen mir nicht, ja, verachten, lästern und hassen mich, schwören und fluchen bei meinem Namen, verfolgen und verdammen mein Wort, sind den Eltern und Obrigkeit ungehorsam, sind Mörder, Ehebrecher, Diebe, Geizhälse, Wucherer, Meineidige, in der Summe, sie tun alle Übel, darum lass sie da hinfahren, wo sie hingehören. Also könnte Gott, spricht Christus, zu euch auch sagen. Aber er tut es nicht, sondern über alle eure Bosheit fährt er zu und ist gütig und gnädig, gibt nicht allein Leib und Leben, Essen und Trinken, Weib und Kind, Nahrung und alle Notdurft zu diesem Leben, sondern auch seinen Sohn und das ewige Leben.“1
Wie so oft - eine derbe Wortwahl Luthers, aber treffend.

Es ist wahr, Gottes Barmherzigkeit spiegelt sich in unserem barmherzigen Handeln nur bruchstückhaft wider. Wir freuen uns einerseits über Gottes Güte und Beistand und danken ihm dafür. Andererseits aber gehen wir mit unseren Mitmenschen nicht in gleicher Weise um.
Wir rechnen ihnen ihre Versäumnisse und Schwachheiten vor, wo wir doch selbst aus Gottes Vergebung leben.
Wir sind hartherzig gegenüber denen, die uns aus irgendeinem Grund nicht passen, und hassen sie sogar, wo Gott doch allen Grund hat, auch zu uns hartherzig zu sein und uns zu hassen.
Wir denken zuerst an uns und gönnen dem anderen nur die „Brotkrumen“, die von unserem reich gedeckten Tisch fallen. Gott aber hat für uns nicht nur Brotkrumen übrig, sondern nimmt uns als seine Kinder an, erlöst von Sünden und Tod und allen Übeln der Welt und schenkt uns ewige Gemeinschaft mit ihm, ewiges Leben.
Schließlich leben wir alle, egal, was wir gegen den anderen auch haben mögen, von der Güte Gottes. Er ist auch zu denen gütig, gegen die wir und auch Gott viel einwenden können. Über uns alle lässt er täglich die Sonne scheinen, gibt Regen für die Früchte des Feldes und tut uns täglich Gutes. Er gibt uns Weisheit und Verstand, um seine Gaben zum Nutzen für alle einzusetzen, auch wenn Menschen sie gegen seine Absicht anders gebrauchen, indem beispielsweise daraus auf Kosten der anderen ein eigener Nutzen gezogen wird und böse Absichten verfolgt werden.

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Das Handeln Gottes soll sich, so können wir dieses Gebot Jesu auf den Punkt bringen, in unserem eigenen Handeln abbilden. Als Kinder Gottes, Kinder des Höchsten, und Jesu Schwestern und Brüder, sollen auch wir barmherzig sein zu jedermann. So wird die Barmherzigkeit durch Christus zudem zu einem Vorgeschmack des ewigen Lebens.

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1 Ort und Datum unbekannt.