„8. Deshalb geben wir den Heuchlern oder »Weltweisen« die Werke und die Rechtfertigung des Gesetzes zu, wir halten nur daran fest, dass sie Gerechtigkeit vor Menschen, nicht vor Gott ist.[1]

 9. Die Gerechtigkeit vor Menschen ist aber, wenn Gott sie auch zeitlich mit den herrlichsten Gütern dieses Lebens ehrt, vor Gott doch ein Betrug und gottlose Heuchelei.

10. Und es ist ein wunderbares Rätsel, dass Gott die »Gerechtigkeit« belohnt, welche er selbst für Ungerechtigkeit und Bosheit ansieht.

11. Denn in den Propheten bezeichnet er offen die allerschönsten Werke nach dem Gesetz und nach unserem Verständnis als »böses Werk unserer Hände«.

12. Das kann damit verglichen werden, wenn ein Fürst einen bösen Knecht duldet, den er ohne größere Gefahr für sein Reich nicht töten kann.

13. So darf man weder die Person des Gottlosen, der sich um Gerechtigkeit müht, noch die Schönheit seines Werks ansehen,

14. sondern die unbegreifliche Geduld und Weisheit Gottes, der das geringere Übel erträgt, damit nicht durch ein größeres Übel alles vernichtet werde.

16. Die Gerechtigkeit des Gesetzes[2] ist nämlich sehr zweifelhaft und so schwach, dass sie oft ihr so überaus gutes Gesetz nicht allein nicht erfüllt, sondern es auch beim geringsten Anlass ganz und gar vergisst.

17. Aber weil man keine andere haben kann, wird sie geduldet und mit den höchsten Gütern dieser Welt gepflegt.

18. Denn Gott hält es nach seiner großen Güte für ein Geringes, so unwürdigen und bösen »Gerechten« oder »Heiligen« so viele und so große Güter zu schenken,

19. so wie eine verständige Obrigkeit zuweilen einem bösen und unredlichen Bürger durch die Finger sieht und ihm um des lieben Friedens willen das Bürgerrecht lässt.

20. Gott sieht nämlich auf etwas anderes, und zwar auf die Herrlichkeit seines künftigen Reiches, in das kein Unbeschnittener oder Unreiner kommen soll, wie die Schrift (Jes. 52, 1) sagt usw.

21. Auch gegen die Kirche und seine Heiligen auf Erden übt er eine ähnliche Geduld und Güte,

22. denn er erträgt sie und erhält sie, weil sie Erstlinge seiner Schöpfung unter uns sind, und erklärt sie schließlich auch für gerecht und Kinder des Reichs.“

WA 39 I,82,21-31; 83,1-5 (aus der 3. Thesenreihe über Röm 3,28). Deutsche Übersetzung aus: Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 2888f. (c) Vandenhoeck und Ruprecht.

 

Bemerkungen und Schlussfolgerungen:

  1. Gottes Toleranz ist zu verstehen als ein Erdulden, Ertragen (= tolere) der Sünde des Menschen (Thesen 14, 18 und 22), die er jedoch uneingeschränkt ablehnt. Seine Toleranz ist eine vorübergehende Haltung gegenüber der Welt. Ihre Grenze erweist er in seinem endgültigen Eingreifen.
  2. Die Toleranz Gottes darf nicht verstanden werden als Vergebung und Überwindung der Sünde durch Gott, da es ihr um die Gesetzesgerechtigkeit (= iustitia legis in These 16) geht. Vergebung und Überwindung der Sünde geschieht allein aus der Gerechtigkeit Gottes (= iustitia Dei).
  3. Zwischen der Toleranz Gottes und der des Menschen gibt es mehrere Differenzen. Die Aussage einer gänzlichen Analogie zwischen unserer und Gottes Toleranz, wie von Synoden und anderen kirchlichen Organen hin und wieder kundgetan wurde, hält einem Vergleich mit Luther nicht stand. Ein Handeln Gottes aus seiner Toleranz heraus kann nicht zwangsläufig ein entsprechendes Handeln der Menschen nach sich ziehen. Ganz grundsätzlich ist Gottes Toleranz ein asymmetrisches Handeln und keines auf Augenhöhe mit uns Menschen. Unsere Überzeugungen und Verhaltensweisen versteht Gott nicht als gleichrangige. Wenn erforderlich, sagt er ein Nein zu ihnen.Eine Analgie besteht jedoch z.B. darin, dass auch zur menschlichen Toleranz eine Ablehnungskomponente gehört. Ohne sie wäre es keine echte Toleranz, sondern das Vorliegen von Gleichgültigkeit oder Bejahung. Die Grenze menschlicher Toleranz liegt dort, wo im Dialog auf Augenhöhe (dazu gehört der Respekt vor den anderen dazu) die Gründe für die Ablehnung dennoch stärker sind als die der Akzeptanz.

 


[1] Sie wird aber vom Menschen zur Selbstrechtfertigung missbraucht.

[2] Gemeint ist die Gerechtigkeit aufgrund von Werken, die das Gesetz fordert.